Chevrolet Bel Air Convertible 1957

V8 sind das natürliche Spielzeug für echte Männer? Von wegen! Auch Girls wie Charlott wissen, wie sie mit amerikanischem Schwermetall ihren Spaß haben

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Es war ein heißer Sommertag, der Wind strich über die trockenen Böden des mittleren Westens und Charlott wartete gespannt auf der Terrasse. Die Felder der Farm erstreckten sich bis zum Horizont, hinter dem im Flimmern der größte, da einzige Ort in der endlosen Weite lag. Und dort war auch der kleine Drugstore mit einem noch kleineren Diner, in dem sich die Jugend des County zum samstäglichen Balzen traf – zumindest diejenigen, die ihre Driving License hatten und den Wagen ihrer Eltern ausleihen konnten. Oder – wie bei Charlott – ein Geschenk von der Grandma, die auch schon unter der Einöde leiden musste.

Charlott hatte das Auto zum 16. Geburtstag bekommen: „Es ist 1957 und nicht mehr 1930 – ein junges, anständiges Mädchen von heute sollte selbstständig entscheiden können, wann es nach Hause geht, anstatt von irgendeinem Rockie abhängig zu sein, nur weil er den abgenudelten Pick-up seines Vaters fährt.“ Grandma wußte, wovon sie sprach. Eine Staubwolke waberte damals auf das Farmgebäude zu: Da kam sie, Grandma, mit der langersehnten Eintrittskarte in die Welt der Softdrinks und Burger, der Hormonwallungen und romantischen Vollmondnächte auf dem Rücksitz…

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Zum Radio gab es optional eine elektrische Antenne im Kotflügel In der hinteren Chromleiste der Heckflosse verbirgt sich die Tanköffnung

Diese Eintrittskarte war gleich das Topmodell der Baureihe: ein Chevrolet Bel Air, eingekleidet vom Karosseriebauer Fisher, der schon seit 1919 zu General Motors gehörte, und die Karosse des Convertible im Werk Lansing in Michgan so fließend in Form goss. Der Fisher Body feierte Hochzeit mit Motor und Fahrwerk im GM Werk Oak-land im fernen Kalifornien. Das Blechkleid war in diesen „awesome“ Gelbton gehüllt, der so perfekt zu Charlott´s Petticoat-Kleid passte. Wie ein Produktmanager im fernen Detroit auf die Idee kam, die Lucite-Acryl-Farbe „Colonial Cream“ zu nennen, interessierte Charlott nicht die Bohne. Wichtiger war ihr das „Gold Package“, das aus den drei goldenen Rangabzeichen an jedem Kotflügel vorn, der goldenen Einlage am Kühlergrill und dem goldenen V8-Ornament auf Motor- und Kofferraumhaube bestand. Auf der silbernen Aluminium-Einlage der Heckflossen prangte vor dem „Bel Air“-Schriftzug das Chevy-Logo – ebenfalls aus dem Material, aus dem Eheringe geschmiedet werden. Ein klares Statement, fand „Charly“, wie sie von ihren Freundinnen genannt wurde. Mit ihrem Chevy Bel Air wurde sie schlagartig zum Leader of the Pack und entschied, welche der Girls auf der durchgehenden Sitzbank den besten Blick auf die Jungs bekamen. Zum Anbahnen und Testen der Kandidaten waren die weichen Sitze mit gelbem Kunstleder bespannt, silber abgesetzt und damit perfekt zum Lack passend. Das klebte zwar etwas in den schwülen Sommernächten, ließ sich aber prima abwischen vor der Heimfahrt zu Daddy.

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Daddy war es auch, der auf einem Chevrolet für seine geliebte Tochter bestand. Von den Baureihen 150, 210 und Bel Air wurden in diesem Jahr 1.515.090 Stück gebaut, das zeugte in seinen Augen von Qualität. Er hatte zwar heftig geschluckt, als Mum einen 2.857 Dollar teuren Nomad als praktischen Familien-Kombi bestellte, aber er blieb seinem Spruch treu: „I´m a Chevy guy!“ Er selbst fuhr einen Chevy 3100 Pick-up, um damit die Schlepperreifen, mit denen er handelte, zu seinen Kunden zu karren.

Dass es für Charly ausgerechnet das 1957 nur 47.562-mal gebaute Convertible wurde, hatte ihm vorher niemand verraten. Grandma holte einfach 2.611 Dollar unter der Matratze hervor und bewahrte Stillschweigen. Auch über die 162 PS des Turbofire 265-cui-V8 mit einem Drehmoment von 336 Nm. Den millionenfach verbauten Small Block schuf Ed Cole, der Motoren-Magier in Chevy-Diensten. Damit könnte Dad´s Herzblut theoretisch 162 km/h schnell sein, würde Charlott nicht offiziell eingebremst vom Speedlimit von 55 Meilen. Charlys Bruder interessierte mehr die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 13,8 Sekunden. Das bedeutete eine Viertelmeilen-Zeit von 21,8 Sekunden. Als er an diesem Punkt der Rechnung ankam war ihm klar, dass er damit auf den 402 Metern keinen Staat machen konnte und er den Wagen also nur im Notfall ausleihen würde. Der stolzen Besitzerin langte es aber, um entspannt mit der Zwei-Gang-Powerglide-Automatik zu cruisen und auf der Main Street gesehen zu werden.

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Die berühmten „Dagmars“ kamen serienmäßig beim ´57er Bel Air, der „traffic light viewer“ kostete extra

Im Prospekt hieß es: „The prettiest picture of top-down fun under the sun“, und die Werbetexter der Madison Avenue hatten nicht zu viel versprochen. Die bombenförmigen Gummispitzen der vorderen Stoßstange wurden „Dagmars“ genannt, nach den beiden hervorstechenden Merkmalen der Schauspielerin Dagmar aus der „Broadway Open House Show“. Die Servolenkung, die erst bei drei Pfund Zug ihre Arbeit beginnt, kostete zwar 70 Dollar extra, ließ Charlott aber viel eleganter wirken beim Einparken am Diner; die Servobremsen gab es auch nur als Option. Wirklich wichtig für Charly waren Extras wie die verchromten Spinner-Wheel-Radkappen und die Weißwandreifen in der Dimension 7.50/14. Ein Must-have war auch der „traffic light viewer“ auf dem Armaturenbrett: Eine geriffelte Plastikscheibe, in der Frau das Licht der Verkehrsampel sah, ohne sich vorbeugen zu müssen. Es gab zwar nur eine Ampel in der Stadt, aber mit solchen Nebensächlichkeiten hielt sich Charly nicht weiter auf.

Herzstück für sie war das Push-Button-Radio, das General Motors von Delco Radio Division in Kokomo, Indiana, fertigen ließ. Nummer eins der Charts war in diesem Jahr ein Lkw-Fahrer namens Elvis Presley mit  „All Shook Up“ – ein Song, den im puritanischen Elternhaus niemand duldete. Pat Boone auf Platz zwei mit “Love Letters In The Sand“ ging gerade noch so durch und war maßgeblich beteiligt, als sie ihren Freund Billy Boy auf dem Backseat näher kennenlernte (aber das ist eine andere Geschichte). Die Moral der 50er bereitete der Starrachse und den vier-lagigen Blattfedern hinten wenig Stress. Vorne wartete inzwischen die Einzelradaufhängung mit Schraubenfedern auf die Heimfahrt. Die konnte Charly, dank Grandma und dem Führerschein mit 16, züchtig alleine antreten. Alkohol gab es erst ab 21 und so konnte Daddy zuhause beruhigt der Hawkshaw Hawkins Radio Show lauschen, während Charlott über sich den weiten Sternenhimmel des mittleren Westens genoss, bevor sie in einer Staubwolke heimfuhr.

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Das Rocket-Design gab es bei Chevy schon ein Jahr vor Gründung der NASA
TECHNISCHE DATEN
Chevrolet Bel Air Convertible
Baujahr: 1957
Motor: V8
Hubraum: 4.342 cm3
Leistung: 120 kW (164 PS) bei 4.400/min
Max. Drehmoment: 336 Nm bei 2.200/min
Getriebe: Powerglide Zweistufen-Automatik
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 5.080/1.877/1.483 mm
Gewicht: 1.515 kg
Beschleunigung 0-100 km/h: 13,8 Sek.
Top-Tempo: 162 km/h
Preis (1957): 2.611 Dollar
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Auch heute lässt es sich mit dem V8 noch entspannt cruisen