Mercedes-Benz E500 W124

Eigentlich sollten 220 Pferdestärken unter der Haube eines niveauvollen Youngtimerkombis genügen. Erst recht, wenn sie von einem seidig laufenden Reihensechszylinder produziert werden – eigentlich. Hardcorefans der Mercedes-Baureihe 124 schätzen jedoch gerade die potenten V8-Motorisierungen…

Familie Bethke schwört auf die 124er-Baureihe. Der Kombi-Umbau krönt ihren persönlichen Fuhrpark

Rund 19 Jahre sind seit dem offiziellen Produktionsstopp der legendären 124er T-Modelle in Bremen vergangen. Und endlich hat das Warten ein Ende. In dem kleinen niedersächsischen Städtchen Walsrode, rund 60 Kilometer südlich von der hanseatischen Autofabrik im beschaulichen Heidekreis gelegen, entsteht in Manufakturarbeit ein Auto, dass es trotz seiner serienmäßigen Anmutung so zuvor nie geben sollte.
Erbauer des saphirschwarzen Youngtimertraums ist André Bethke. Der Unternehmer und Inhaber des Oldtimerparks Walsrode tritt angenehm bodenständig auf und ist in der Szene kein Unbekannter. Er liebt und lebt das Thema Mercedes-Benz, beruflich und privat. Ein klassischer E320T, das gutbürgerliche Kombi-Spitzenmodell der von Bruno Sacco gezeichneten Mittelklassebaureihe, fungiert über eineinhalb Jahrzehnte als sein Privatwagen. Doch Bethke sehnt sich stets nach mehr. Er will nicht verstehen, dass sich die Stuttgarter Manager – mal abgesehen von wenigen, handverlesenen AMG- und Artz-Umbauten – für die Serie nicht zu einem entsprechenden Power-Kombi mit standesgemäßem Achtender-Triebwerk durchringen können.

Fünf Liter Hubraum und acht Zylinder sorgen für äußerst souveränen Vortrieb

Es lebe der Sport: Das modifizierte Fahrwerk und breitere Reifen machen den Top-124er zum Dynamiker

Bethkes Vision ist ein drehmomentstarker Fünfliter-Kombi im Stile des serienmäßig auffälligen E500 Limited-Modells – sein persönliches Traumauto. Die Geburt ist langwierig, die ausgereifte Idee verschwindet zunächst wieder in der Schublade. Dafür verläuft die praktische Umsetzung im Winter 2014/15 generalstabsmäßig: „Ich wollte das Projekt seit Jahren durchziehen, irgendwann musste ich jetzt ja mal anfangen.“

Selten und seltener: Die Limited-Limo gab es ab Werk genau 500 Mal, der Kombi ist (vorerst) ein Einzelstück

Vollwert-Daimler bis ins Detail: Seine massiv-edle Ausstrahlung hat den 500er längst zum gesuchten Klassiker gemacht

Wer jetzt an einen einfachen Plug- and Play-Motorumbau denkt, der irrt gewaltig. Bethke ist im positiven Sinne ein Pedant, besorgt sich eine späte 1995er  „E 500 Limited“-Limousine als Projekt­basis. Die Beibehaltung der originalen 500er-Bodengruppe samt Achsen des Baumusters 124.036 sieht er als absolutes Muss für seinen zukünftigen Understatement-Frachter.
Praktisch den ersten Schnitt zu wagen ist für ihn und seine Mannschaft  nicht einfach. Bethke erinnert sich noch sehr gut an die hitzigen Diskussionen: „Meine Mitarbeiter wollten zuerst nicht mit der Flex an das nur 500 Mal gebaute Basisfahrzeug ran. Aber irgendwann muss man ja anfangen, sonst wird das nichts.“
Auf Höhe der A- und B-Säulenmitte wird nach ausführlichen Messreihen die Dachpartie millimetergenau abgetrennt, das Ende der Limousine muss ebenfalls weichen.
Um das neue, deutlich längere S124-Kombidach samt Fahrzeugheck harmonisch wieder anzufügen, ist neben viel Karosseriebaupräzision und Modell-Knowhow sowie etlichen originalen Reparaturblechen auch ein gehöriges Maß an Kreativität gefragt. Die charakteristischen, bullig ausgestellten Radläufe sind die optisch auffälligen I-Tüpfelchen der extrastarken 500er-Mittelklasselimousine. Sie sollen beim Kombi ebenfalls unbedingt erhalten bleiben.

Die Limited-Version ist der Paradiesvogel unter den W124-Modellen, schrille Lederfarben inklusive

Fast wie im Taxi: Klarer lässt sich ein Kombiinstrument nicht gestalten

Touristik und Transport Limited

Im Innenraum kombinierte Bethke gekonnt das Beste aus zwei Welten. Das
T steht im konservativen Daimlerjargon eigentlich für Touristik und Transport.
T-typisch praktische Zutaten wie das Laderaumabteil mit gigantisch großer Ladefläche, Schmugglerfächer, Veloursteppiche, Doppelrollo und eine serienmäßge Zuziehhilfe für die Heckklappe treffen auf schrille schwarz-grüne Sportlederpolster und Vogelahornziereinlagen des avantgardistisch angehauchten Limousinen-innenraums, natürlich ohne die variablen Klappkünste oder die Verwindungsfestigkeit opfern zu müssen.

Seine schnörkellose Linie macht den 124er für viele Fans zum schönsten T-Modell überhaupt

Operation geglückt

Der handwerkliche Aufwand hat sich gelohnt, die Operation ist geglückt. Das Ergebnis spricht für sich: die 4.765 Millimeter lange Karosse präsentiert sich nicht nur in einem neuwagenähnlichen Zustand, sondern ist bis ins Detail so stimmig aufgebaut, als wäre sie ein Serienfahrzeug. Im Handling macht der mit einem zur Fahrzeugcharakteristik passenden Viergangautomaten bestückte Über-T reichlich Spaß. Wie sein Limousinenbruder gibt er eine beeindruckend sichere und zugleich agile Vorstellung ab. 320 PS Motorleistung genügen, um das Mehrgewicht von rund 110 Kilogramm perfekt zu kaschieren. Das ursprünglich aus dem R129 SL stammende Aggregat hängt willig am Gas und schiebt dank seiner kurzen Getriebeübersetzung wohlig bollernd bis zur freiwillig selbstbeschränkten Autobahnspitzengeschwindigkeit von 250 Kilometern pro Stunde an.

Perfekte Ergänzung: um den Unterschied erfahren zu können, gibt es im Fuhrpark der Familie Bethke auch noch eine Limited-Limo

Trotz des enormen Aufwands – der Unternehmer notierte gewerkeübergreifend insgesamt rund 600 Stunden oder zwei Mann-Monate Arbeit: André Bethke denkt inzwischen laut über eine Kleinserie nach. Natürlich hätte jedes Fahrzeug seinen Preis, mit rund 95.000 Euro müssten Kunden rechnen. Würden sie eine 500er Limousine und ein brauchbares T-Modell mitbringen, könnte sich der Tarif bis auf 60.000 Euro reduzieren. Exklusivität war noch nie billig, inflationsbereinigt ist sie in diesem Fall aber sehr preiswert: Ein normaler E500 in Grundausführung kostete 1993 ab Werk bereits 145.590 D-Mark.

Text: Lars Jakumeit
Fotos: Christian Dietz