Der Biss der großen Natter: Alfa Romeo Giulia Super 1.6 Biscione 1970

Dieses Auto ist wie zu viel Kaffee mit Kofferraum. Aufwühlend, hektisch und dabei gar nicht mal so unpraktisch. Die Welt um einen herum scheint langsamer zu werden, oder macht das das Adrenalin? Die italienische Giulia Super verführt ihren Fahrer auf wenig subtile Art und Weise, und das macht sie zur ehrlichen, rassigen Haut aus Blech und Gummi. „Cuore Sportivo“, nicht übertrieben aufdringlich, ohne breiten Arsch, aber alle sind sich einig: was für eine tolle Braut!

 

Kaffee? Gern. Diese Geschichte ist eine Ich-Erzählung. Ich-Erzählungen waren in der Grundschule, damals in den 70ern, von meiner Lehrerin Frau Rehberg nicht so gern gesehen. Uns wurde beigebracht, als objektiver Narrator das Erlebte mit Distanz zu betrachten und den eigenen Standpunkt außen vor zu lassen.

Vergesst es. Dieses Auto, über das ich hier schreibe, ist ein Ich-Auto. Ich sehe, ich fühle, ich höre. Jegliche Objektivität können wir mal getrost in die gelbe Tonne treten, zu den recycelten Smarts, Twizzis und UPs. Distanz ist schier unmöglich, und der subjektive eigene Standpunkt ist das sportliche Gift, was der Marke Alfa Romeo überhaupt erst ihren Geist einhaucht. Alles, was die graue Limousine mit meiner Grundschule gemeinsam hat, ist „damals in den 70ern“.

Der unternehmungslustige Doppelnocker tickt leise. Ich gönne ihm und mir eine kleine Pause, trinke noch ein paar Schluck Espresso und lasse den Wagen auf mich wirken. Lege meine Finger zärtlich auf das dreispeichige Lenkrad und lasse meine Augen auf den drei schön gezeichneten Rundinstrumenten ruhen. Drehzahlmesser, Uhr, Tacho. Sie konnten das, die Italiener. Vielleicht hielten die Schuhe von denen besser als die Autos. Das lag aber nur daran, dass in den Karossen so herrlich viel Feuer steckte, an dem man sich gern verbrannte.

Meine ersten und einzigen Erfahrungen mit einem Alfa Romeo fanden – Achtung – in den 70ern statt, parallel zur Grundschule. In einem alten Kartoffelschuppen auf einem Acker bei Ripdorf lagerten die Unfallautos aus der Umgebung, bis alle Ermittlungen oder die Versicherungs-Scharmützel abgeschlossen waren. Das Tor stand immer einen Spaltbreit offen. Im Inneren lagerten zwei blaue, verbeulte R4, ein dunkelgelbes Audi Coupé S und ein dunkelgrünes Alfa Romeo GT Bertone Cabriolet. Der Wagen war schon damals stark verrostet und von irgendjemandem mit einem sehr durchschlagskräftigen Luftgewehr penetriert worden. Er war tot. Aber er war rassig und filigran, ganz anders als Papas Audi 100. Er bestand aus Metall, Holz, Chrom und Leder. Ich liebte ihn. Wir spielten Vater-Mutter-Kind in den Autos, ohne zu wissen, was für Schätze hier lagerten. Die Grundschule lehrte uns, objektiv zu sein. Es waren also alte, kaputte Autos.

Im neuen Jahrtausend ist das Vater-Mutter-Kind-Spiel schon lange kein Spiel mehr. Aber jetzt ist dieses Gefühl von damals wieder da. Die Ingenieure der Giulia Super waren Anfang der 60er voll auf Kaffee und konstruierten ein Auto, was ebenfalls voll auf Kaffee war. Die Vorgängerin „Giulietta“ war ihrer Kinderzeit entwachsen und verlor nicht nur im Namen ihre Niedlichkeit. Sie wurde zur Giulia. Zeitgenössische Tester attestierten ihr eine „Überlegenheit, die man nur maßvoll ausnutzen darf, wenn man die anderen Verkehrsteilnehmer nicht verängstigen will“. Dabei war es fast egal, ob unter ihrer Haube der 1,3-Liter- oder der 1,6-Liter-Motor werkelte, der Wagen wurde zum Inbegriff der europäischen Sportlimousine. Und wenn dann auch noch diese Schlange auf der C-Säule klebte, wusste man, dass Legenden geboren waren. Die „Biscione“ griff auf 104 statt der üblichen 98 PS zurück. Die „große Natter“ wurde von der Sondereinheit „Pantera“ der italienischen Polizei als schneller Einsatzwagen genutzt. Normalsterbliche mussten einen gewissen Wohlstand verzeichnen, um die sechs Mehr-PS unterhalten zu können. Die italienische Grenze zum Supersportwagen lag bei 100 PS, für die bissige Jule war also erheblich mehr Geld für Steuern und Versicherung fällig. Böse Zungen behaupten allerdings, dass fast alle Giulias aus den frühen 70ern die „Biscione“ auf der Seite kleben hatten. Na und? Die Geschichte ist trotzdem klasse.

Ab 1977 wurde aus der erwachsenen Giulia wieder eine Giulietta, welche die italienische Rasse der großen Schwester ein wenig verlor. Darauf erst mal einen Kaffee.

Jule hat ihrem italienischen Erstbesitzer 30 Jahre lang treu gedient, dann kam sie nach Deutschland. Hier wurden Motor, Getriebe, Antrieb und Bremsen komplett überholt. Alle Gummiteile kamen neu, der Unterboden wurde mit Trockeneis gestrahlt und das klotzige Auto in seiner Originalfarbe neu lackiert. Abschließend bekam die Natter neue Dämmmatten und einen neuen Teppich. Ich habe das Gefühl, dass der Wagen alt und neu gleichzeitig riecht. So, der Kaffee ist alle. Und jetzt sind die Emotionen genug runtergekühlt, jetzt geht es wieder auf die Straße!

Ich drehe den Zündschlüssel. Der Drehzahlmesser schnellt zuckend hoch. Der Jahrhundertmotor von Alfas Chefkonstrukteur Orazio Satta Puglia will mit ein paar Gasstößen am Leben gehalten werden. Nach leichten Justierungen am sensiblen Choke schnorcheln die beiden Weber-Doppelvergaser zufrieden vor sich hin und sorgen für einen überraschend runden Motorlauf. Der längs eingebaute Klotz aus Leichtmetall ist, wie bei Alfa üblich, wunderschön im Motorraum arrangiert. Der doppelläufige Zylinderkopf glänzt wie ein Kunstwerk, die Zündkerzen thronen fein in der Mitte. Wollen junge Menschen heute noch die Motoren ihrer Autos angucken? Nein. Damals, in den 70ern, waren die Triebwerke der Italiener bewundernswerte Augenweiden. Und Ohrenweiden. Die gut 104 Pantera-PS ziehen knisternd und röhrend die Giulia nach vorn, und wenn man sich erst einmal dran gewöhnt hat, den Drehzahlbereich der gewohnten Amikutschen um ein paar 1.000 zu überbieten, geht ein Feuerwerk an Leidenschaft, Bewegung und Spaß ab. Kein Sounddesigner hat hier nach einem kompletten Physikstudium monatelang Großrechner bemüht, um den Klang eines überzüchteten, abgasgereinigten Verbrenners durch die armdicken Auspuff-Dummys möglichst kraftvoll klingen zu lassen. Hier macht der Motor selbst die Musik, und der fast leere Auspuff erzählt ein Lied von explosionsartigen Zündungen in den Zylindern. Yeah.

Was auch immer Riscald. und Generat. bedeuten (ich habe da so eine Ahnung), was auch immer luci und fari anzeigen – sie leuchten nicht, also ist alles okay. Benzina ist da, Acqua ist warm, die Biscione kann freigelassen werden. Zwischen Ahrensburg und Stapelfeld ziehe ich die hochbeinige Limousine mit dem überraschend guten CW-Wert mühelos an Passats, Vectras und Mondeos vorbei. Was für ein Riss dank wenig Gewicht, was für eine helle, aufgeräumte und emotionale Pilotenkanzel. Ich habe das alles als Kind in dem Bertone schon geahnt, konnte es aber nicht in Worte kleiden. Der blaue Himmel über der Elbregion kontrastiert den silbernen Lack, und der unsterbliche Adriano Celentano raunzt seine Hymne über den blauen Himmel in die Welt, bevor er am Ende doch die Bahn nimmt. Wie konnte dieses Auto so viele Jahrzehnte an mir vorbeirutschen, ohne dass ich es bemerkte? Voll auf Kaffee. Die Giulia, ich und meine Gedanken. Grazie.

Azzurro, il pomeriggio è troppo azzurro e lungo per me.
Mi accorgo di non avere più risorse, senza di te,
e allora io quasi quasi prendo il treno e vengo, vengo da te,
ma il treno dei desideri nei miei pensieri all’incontrario va.“

TECHNISCHE DATEN

Alfa Romeo Giulia Super 1.6 Biscione

Baujahr: 1970
Motor: Vierzylinder-Reihe
Hubraum: 1.570 ccm (96 cui)
Leistung: 76 kW (103 PS) bei 5.500/min
Max. Drehmoment: 140 Nm bei 4.600/min
Getriebe: Fünfgang-Handschaltung
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4.160/1.560/1.430 mm
Leergewicht: 1.020 kg
Beschleunigung 0–100 km/h: 10,4 Sek.
Top-Speed: 179 km/h
Wert: ca. 30.000 Euro

Text und Fotos: Jens Tanz

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