Chevrolet Caprice Estate 1973 – Zwei Tonnen Lebensraum

Kurz vor der ersten Ölkrise wollte General Motors es noch mal wissen: Mit dem Chevy Caprice stand eine Fullsize-Karosse in den Verkaufsräumen, die sich in ihren Dimensionen nur noch selbst übertreffen konnte – mit dem Kombimodell Estate. Rüdiger Timm aus Helmste besitzt so einen Raumgleiter und lädt uns für eine Spazierfahrt in sein rollendes Haus

*Klack*: Der untere Teil der Heckklappe dieses exorbitant großen Chevrolet Caprice Estate von 1973 fällt herunter in einen Schacht zwischen Ladefläche und Boden. *Siiiirrrrr*: Der obere Teil der Heckklappe, die Scheibe, verzieht sich in einen Schacht zwischen Wagenhimmel und Dach. Wer amerikanische Kombinationskraftwagen kennt, wundert oder freut sich meistens über riesige Klapptüren am Heck, manchmal zweigeteilt, aber immer anders als bei den europäischen Autos. Denn nach oben schwingende Heckklappen kennt der Amerikaner nicht.

Egal – die „Tür“ gibt den Blick frei in eine riesige Lagerhalle, die erst ganz weit vorne durch eine Sitzbank begrenzt wird. So etwas ist mit europäischem Verstand nur schwer zu fassen. Rüdiger Timm schmunzelt und legt sich entspannt auf die Ladefläche seines Autos. Wir müssen von hier hinten etwas lauter rufen, damit er uns versteht: Der 1973er Caprice Estate ist das Übermaß des Machbaren, und gleichwohl er in Amerika so etwas wie ein VW Passat war, sieht man ihn in Deutschland so gut wie nie.

Warum auch sollte sich jemand hier mit einem preiswerten 2,3-Tonnen-Schiff und einer schwankenden Grundfläche von mehr als zwölf Quadratmetern in den Straßenverkehr wagen – in einem Land, in dem ein durchschnittlicher Kleinwagen hinten quer reinpassen würde? Andererseits gibt immer wieder Menschen, die nicht gern das besitzen, was woanders quer reinpasst. Die sich eben mit dem durchschnittlichen Kleinwagen nicht abgeben wollen. Timm ist so jemand. Und in diesem Fall gilt: Wenn schon, denn schon.

Noch in den 60ern bauten die amerikanischen Automobilkonzerne immer nur ein Basismodell, benannten es möglichst einfach und kreierten dann weitere Modelle mit epischen Namen einfach nur dadurch, dass sie mehr Zierleisten auf die Seiten klebten oder den Innenraum ein bisschen plüschiger gestalteten. Der erste Caprice war eine Ausstattungsvariante des Impala, bis er ab 1966 eine eigenständige Baureihe wurde und Chevrolets Topmodell markierte. Konsequenterweise gab es die deutlich über fünf Meter lange Wanne nur mit Turbo-Fire-V8-Motoren und Vierfach-Vergaser oder mit Turbo-Jet-V8-Motoren mit Einspritzung.

1971 kamen die neuen Caprice – noch länger, noch breiter und noch schwerer. Als die OPEC dem Westen langsam und nachhaltig den Ölhahn zudrehte, reagierte man allerdings bei General Motors nicht sofort mit kleinen Modellen, sondern bot den Käufern wie gewohnt Fullsize im Übermaß an und bastelte stattdessen ein bisschen an den Motoren. Die wurden nicht etwa kleiner, oh nein: Die wuchtigen V8 wurden in ihrer Verdichtung einfach nur so weit zurückgenommen, dass sie in etwa die Kompression einer Fahrradluftpumpe hatten. Das ließ sie leistungsmäßig nur etwas über dem Gebläsemotor der Lüftung liegen, besänftigte im Gegenzug aber die Versicherungen, machte die Graugussklötze unanfälliger und ließ die Abgase innerhalb der jährlich strenger werdenden Normen bleiben. Erstmal zumindest. In so einen 6,6-Liter-Block mit kastrierten 150 PS konnte man alles reinkippen bis auf Diesel.

Als diese Maßnahmen 1973 nicht mehr reichten, konstruierten die Techniker ein fast hilflos wirkendes Bauteil, das die aufwändige Softwaremanipulation zur Verbesserung der Abgaswerte mit viel einfacheren Mitteln toppen kann: die „Smog Pump“. Ein „Air Injection Reactor“ (A.I.R.) pumpt über einen Riemen angetrieben zusätzliche Frischluft in den Abgaskrümmer. Somit werden die Auspuffgase „verdünnt“ und sind viel sauberer. Amerika nickt es selbstherrlich ab.

Parallel zum letzten Aufbäumen der Überdimensionierung fand die Sicherheit Einzug in die Pflichtenhefte der Ingenieure und die Fahrzeugtechnik. Dreipunkt-Gurte mit Anschnallwarner für Fahrer- und Beifahrersitz nervten fortan durch mechanisches Gebimmel bei zu viel ungebundenem Laissez Faire. Der erste Seitenaufprallschutz mit mächtigen, massiven Stahlträgern in den Türen bewahrte die Insassen vor zu eiligem Tod durch Querverkehr nach übersehenen roten Ampeln. Und Stoßstangen mit eingebauten Stoßdämpfern zum schadenfreien Abfangen von leichten Remplern kamen kurzsichtigen Pensionären beim Einparken entgegen. Diese Maßnahmen trugen allerdings nicht zur Gewichtersparnis der riesigen Autos bei, und so kommt ein Caprice Estate mit leerem Tank schon auf ein Gesamtgewicht von mehr als 2,3 Tonnen.

Aber, das war schon okay so. Ein massiver Leiterrahmen, ein dicker Motor vorn und die angetriebene Achse hinten verkauften sich in der Mittelschicht mit ihren voll finanzierten Holzhäuschen hervorragend. In den 70er Jahren hatte allein Chevrolet in Amerika einen Marktanteil von 25 Prozent. Das ist mehr, als der gesamte GM-Konzern heute verbuchen kann. Später spricht Chefdesigner Bill Mitchell aus, was schon lange allen klar war: „Unsere Autos sind zu vollgefressen, zu ineffizient. Zu viel Blech.“ Von diesem Moment an werden amerikanische Autos kleiner, aber es dauert noch Jahrzehnte, bis sie auf europäische Dimensionen schrumpfen. Dieser Caprice kennt davon noch nichts. Er wurde in einer Welt geboren, als Downsizing noch kein Begriff war.

Rüdiger Timm schreitet durch einer der hinteren Türen aus seinem prinzipiellen Neunsitzer heraus. Der Estate mit dem extrem unecht aussehenden, aber zeitgenössischen „Woody“-Dekor an den Seiten kam 2014 von San Franzisko zu einem kleinen Händler nach Holland. Der Vorbesitzer besaß eine Lackiererei und hatte in den vergangenen sechs Jahren schon ein paar Reparaturen durchgeführt. Außerdem polierte er den gesamten verwitterten Lack sorgfältig auf und überzog ihn mit einer schützenden Schicht Klarlack, was den Kombi funkeln lässt wie einen fettigen Goldbarren. An ihrem Hochzeitstag im Oktober 2014 kaufen Timm und seine Frau den Chevy und fahren ihn auf eigener Achse aus Holland nach Hause in das kleine Dorf bei Stade. Über den Winter baute er alle für den deutschen TÜV nötigen Kleinigkeiten um, damit hatte er schon Erfahrungen bei seinem zweiten Wagen, einem Ford F 100 XLT Ranger gesammelt.

Und jetzt rollt der Riese problemlos. Keine zickenden Steuergeräte, keine maroden Schaltkreise, keine lügenden Luftmengenmesser. Sowas hat der alles nicht. Ab und an meldet sich mal die Warnlampe für den leeren Tank, aber andere Sorgen macht der Chevy nicht. Wenn man sich also mit Haut und Haaren darauf einlassen kann, mehr und öfter zu tanken als die anderen, hat man einen treuen Begleiter. Einen „Raumgleiter“, wie die Timms ihren Estate liebevoll nennen.

Die Fahrt in so einem Überlebenden des Mineralöl-Paläozoikums ist dabei nicht weniger spektakulär als in einem Firebird oder einem Challenger, nur anders. Das gewaltige Auto tritt durchaus kraftvoll und soundgewaltig aus dem Drehzahlkeller an und schaukelt sich dabei über die Bodenwellen, was aufgrund der schieren Größe die oft zitierten Assoziationen an ein Schiff bunt untermalt. Ein Ozeanriese. Ein Supertanker. Das Drehmoment von 400 Newtonmetern liegt schon knapp über dem Standgas an, entsprechend unaufgeregt blubbert der V8 vor sich hin, während die Automatik unbemerkt die drei Gänge einlegt.

Der Caprice vermittelt das behagliche Gefühl, in einer Art sicheren Burg zu sitzen, in einem gemütlichen Zuhause. Umgeben von dicken Teppichen und unechtem Holz, den vom Alltag gebeutelten Körper auf großen, bequemen Sitzen gebettet. Und auch wenn man mehr Raum um sich hat als andere in ihrem Wohnzimmer ist der Vortrieb nicht etwa träge. Der Überkombi gleitet recht vital dahin, Timm lenkt ihn gekonnt und ständig korrigierend mit der (wie alles andere auch) überdimensionierten Servolenkung durch die Straßen. So behaglich sich das „zu Hause“-Gefühl auch breitmacht, so merkwürdig ist es, mit der gesamten Ferienwohnung an Supermärkten und Apotheken vorbeizufahren. Aber man gewöhnt sich ja an alles.

Auf allen Oldtimertreffen ist der Timms Caprice Estate ein Vollblut-Star. Gar nicht mal wegen seines guten Zustands oder wegen seines Preises – sondern wegen seiner schieren Größe und seiner Seltenheit. In der Masse der Mustang fällt das kantige Butter-und-Brot-Gesicht der amerikanischen Mittelklasse extrem auf. Gut so.

Die Dinosaurier starben aus, weil sie zu groß und zu unbeweglich waren. Gerade diese Eigenschaften haben einigen Vertretern der Caprice-Rasse das Überleben bis in digitale Zeiten und geschrumpfte Welten ermöglicht.

Denn irgendwo existiert immer ein Fan, der alles liebt, was anders ist.

Chevrolet Caprice Estate

Baujahr: 1973
Motor: V8
Hubraum: 6.573 ccm (400 cui)
Leistung: 110 kW (150 PS) bei 3.200/min
Max. Drehmoment: 400 Nm bei 2.000/min
Getriebe: Dreigang-Automatik
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 5760/2020/1480 mm
Leergewicht:  2168 kg
Beschleunigung 0-100 km/h: 16,5 s
Top-Speed: 162 km/h
Wert: ca. 15.000 Euro























Text und Fotos: Jens Tanz