Im Reich der Kleinstwagen: Miniatur Wunderland Hamburg

Wo passen 9250 Autos auf 1500 Quadratmeter Fläche? Nur in der weltgrößten Modellbauanlage, dem Miniatur Wunderland in Hamburg. Was einst als Staffage für Eisenbahnen gedacht war, hat sich längst als zur eigenen Attraktion entwickelt: Supersportwagen, Brot-und-Butter-Autos, Oldtimer, Lkw und bald auch Rennwagen – High Tech in 1:87

Welch Dramen: In Italien verrostet ein Barockengel im Hinterhof. In der Provence verreckt ein R5, und zwischen den Lavendelfelder rauscht ein Citroën HY in ein Schlagloch und verliert seine Hühnerkäfige. In den Ardennen quält sich ein Fiat 500 mit überhoher Dachladung die Passstraße hinauf, in Rom wird mit Polizeibegleitung protestiert, im Schweizer Wallis bekommt jemand einen quietschgelben Mini zum Geburtstag geschenkt und wegen der defekten Klappe eines Käselasters rollen fette gelbe Stinkedinger den Berg hinab… Hier ist was los. Alles unter dem Dach eines Speicherhaus im ehemaligen Hamburger Freihafen.

Denn hier logiert das Miniatur Wunderland. Vor knapp 20 Jahren mit dem Ziel gegründet, einmal die weltgrößte Modellbaulandschaft zu sein, hat es das schon lange erreicht. Auf einer bebauten Fläche von rund 1.500 Quadratmetern summiert sich eine Gleislänge von fast 16 Kilometern, auf denen mehr als 1.000 Züge mit rund 10.000 Waggons fahren. Mehr als 270.000 Figuren, 4.300 Gebäude, 130.000 Bäume und genau 52 Flugzeuge beleben die Szenerie, fast 480.000 LEDs erhellen die Flächen. Diverse Landschaften werden geboten und von 50 Steuerungscomputern programmiert: Mitteldeutschland, Knuffingen plus Knuffingen Airport, Österreich, Hamburg, Amerika, Skandinavien, die Schweiz, Italien, Venedig und eine Kirmes (die bislang jüngste Mini-Welt). Zurzeit hat das Wunderland 360 Mitarbeiter.

Einer davon ist Axel Dirks (40). Er ist einer von drei festangestellten Autospezialisten, denn die Kfz hier sind eine Welt für sich: Es gibt rund 9250 Stück. Die sind so liebevoll gemacht, platziert, in Szenen eingebettet, dass man auch als Eisenbahnhasser hier voll auf seine Kosten kommt. Autos sind aus dieser Welt genauso wenig wie in echt wegzudenken, und so stehen sie in Massen am Rande des DJ-Bobo-Konzertes in der Schweiz genauso wie im Stau auf einer Autobahnbaustelle, in kleinen italienischen Gassen, beim Umzug in der amerikanischen Provinz oder am Knuffingen-Hamburger Flughafen.

Aber man sollte schon genau hinsehen, denn die große Stärke Wunderwelt ist ihre Detailversessenheit. Es gibt so viel zu entdecken: den zusammengebrochenen Marmortransporter, kleine und größere Unfälle hier und da, Oldtimerrallyes, ein Tractorpulling-Event, ein Trabi auf dem Gabelstapler, der Opel Manta als Liege, der Mercedes 600 vorm Schweizer Kempinski, der HY vom „Alien-Hunter e.V“, den Mercedes-Pickup mit Sarg als Ladung, überladene Kleinwagen, Fiat-500-Bergrennen und noch unglaublich viel mehr.

Aber auch ein paar Unmöglichkeiten machen die Suche interessant – zum Beispiel das Pferd im Z8, ein Zirkuselefant auf einer Limousine, der vom Laternenpfahl aufgespießte Audi, Lightning McQueen in der Autowäsche, ein Schneemann als Fahrer eines Audi TT, der Cayenne auf der schmelzenden Eisscholle. Vom Alltag bis zur der Sozialkritik, vom Joke bis zum Krimi haben hier die Macher alles verbaut, was kreativen Menschen so einfallen kann.

Die Mehrzahl der Autos sind von Herpa – welche Automarken und -Modelle die Anlage bevölkern, ist zunächst dem Geschmack der Modellbauer und den Männern vom Carsystem überlassen. Dirks: „Es gibt Exemplare, die passen nach ein paar Jahren nicht mehr ins Bild, die werden dann durch neue Modelle getauscht. Manchmal möchten wir auch eine neue Message rüberbringen. Gute Beispiele dafür: der „Hanseatic Help“-Lastwagen – der Verein unterstützt in Hamburg Bedürftige. Oder der GoBanyo-Duschbus für Obdachlose in der Hansestadt. Wir meinen, solche soziale Komponenten auch in der Wunderwelt sollten immer wichtiger werden.“

Das sich so viele Oldtimer auf der Anlage finden, wie man sie leider auf der Straße heute nicht antrifft, hat zwei ganz klare Gründe: „Einerseits stammen die noch aus unserer Anfangszeit von vor knapp 20 Jahren, die sind also einfach zum Oldie gereift,“ weiß Dirks. „Hinzu kommt aber, dass die Modellbau-Lizenzen für die Produktion aktueller Modelle unverschämt teuer sind. Da bleibt vielen Firmen nichts anderes, als vermehrt Klassiker aufzulegen.“

Knapp 300 Autos können tatsächlich rollen, fast alles Lkw und Transporter – der kleinste fahrende Wagen ist ein VW LT. Basis des ganzen Systems ist das Faller Car-System. „Früher fuhren auch Pkw,“ erzählt Dirks, „aber der Wartungsaufwand war einfach zu hoch. Die winzigen Ritzel und Getriebe haben den Staub angezogen, und nach jeweils zwölf Kilometern war ein großer Service fällig.“  Das passt nicht zum Anspruch, dass jedes Fahrzeug 365 Tage im Jahr fahren muss. Ein anderes Problem ist bei kleinen Autos die Unterbringung der Technik: „Da stecken Motor, Akku, Spannungsversorgung, Ansteuerungsplatine und LEDs drinnen,“ weiß Dirks, „die Autos müssen selbstständig in ihre Ladestationen fahren können und werden dort über die Außenspiegel mit neuer Energie versorgt.“

Ihren Weg finden die Wagen nicht nur über Induktionsschleifen in der Fahrbahn oder ähnliches. Dirks erklärt: „Vor ein paar Jahren haben wir angefangen, die Anlage mit einem speziellen Infrarot-GPS-System auszustatten, so dass die Fahrzeuge nicht mit dem PC kommunizieren müssen. Dazu hängen diverse Satellitenteller an der Decke, worüber Befehle an die Autos gesendet werden. Anhalten, Abbiegen und so weiter wird sowohl dank Elektromagneten in der Fahrbahn als auch mit Infrarotsignalen übermittelt. Nur über Infrarot laufen dagegen zum Beispiel Befehle über Tempoänderungen des jeweiligen Fahrzeuges, über bestimmte Überholvorgänge und Umleitungen, wenn es auf dem programmierten Weg irgendein Problem gibt.“

Schon das ist alles sehr anspruchsvoll – die Jungs vom Carsystem gehen aber noch ein paar Schritte weiter. Wenn sie zum Beispiel neue Hingucker brauchen wie den faszinierenden riesigen US-Feuerwehrleiterwagen Seagrave der „Corona Tigers“ , kaufen sie die Basis bei dem Spezialisten Merlau. Sie kreieren dann ein Einzelstück, in diesem Falle mit rund 60 LEDs an und in der Karosserie. Allein die Modellbauer brauchen dafür etwa 20 Stunden, die Techniker fast noch einmal so viele. Aber damit nicht genug: Die Verantwortlichen bauen auch komplette Autos selber. Dazu gehören zum Beispiel alle Flughafenspezialfahrzeuge wie Enteiser oder Gepäckwagen, für die es sonst keinen Markt gibt. Oder der „Moia“ für Hamburg. Moia? Ist nicht überall bekannt: Es ist ein auf reinen Elektroantrieb umgebauter VW Crafter im Verbund des VW-Carsharingbetriebes, der in Hamburg und Hannover als Sammeltaxi fährt. Da es das Auto nicht als Modell zu kaufen gibt, haben die Wunderländler den Wagen eben im 3D-Drucker geformt. Und dabei etwas geschummelt: „Der Wagen ist Maßstab 1:86 geworden, sonst hätten die Technik nicht unterbringen können.“ Wegen der Tatsache, dass das Original keine Außenspiegel besitzt, müssen die die Ingenieure noch überlegen, wie sie das Sammeltaxi aufladen können. Lust hätten sie auch auf einen BMW i3 – unter anderem deshalb, weil ihr Chef und einer der zwei Wunderlandgründer, Gerrit Braun, einen fährt. Dazu Dirks: „Das würde allerdings bedeuten, dass der Wagen wegen des geringen Platzes nur einen winzigen Akku besitzen könnte und das Auto viel zu wenig im Verkehrsfluss präsent sein würde. Und wenn wir davon viele hätten, bräuchten wir ganz andere Mengen an Ladestationen.“

Eine ganz andere Herausforderung steht den Männern des Car Systems zurzeit bevor: ein Formel-Rennen in Monaco. Tatsächlich ist das Fürstentum gerade im Werden, und an der Piste für die Formel 1 und die Formel E sitzen schon tausende jubelnder Zuschauer. Das Ziel ist klar definiert: Jedes Rennen soll anders verlaufen, es darf nicht immer Hamilton gewinnen, und es muss unvorhergesehene Überholmanöver und Boxenstopps geben.

Das erfordert eine ganz neue Technik. Dirks: „Wir haben uns entschieden, dass der Hauptteil der Technik nicht im Fahrzeug steckt, sondern in der Straße. Dort befindet sich auch der Antrieb dank eines Magnetfeldes.“ Letztlich soll die Piste zur riesigen Platine werden, in den Autos selber befinden sich nur noch Magnete, womit sie fast wartungsfrei sind. Ob sich die winzigen Räder auch drehen werden, ist noch nicht klar – „im optimalen Fall soll es so sein. Wenn wir 20 oder mehr Fahrzeuge auf der Platte haben, werden wir sehen, was machbar ist.“ Da wartet noch eine Menge Tüftelarbeit, denn: „Bei vielem, was wir hier machen, gibt es keine Vorbilder aus der Industrie, die man übernehmen könnte. Da bleibt uns nur ‚Try and Error‘.“

Das gilt auch für die unzähligen kleinen Szenen, die rund um Bahn und Autos passieren. Okay, der Bahnarbeiter, der mit den Beinen unter die Räder kam, war zu makaber und musste wieder verschwinden. Aber die nette kleine Leiche im Fluss mit Kripo, Schupos und Spusi ist ein Hingucker, ebenfalls Superman über der an der Klippe hängenden Schrottlimousine. Eines unserer persönlichen Highlights erkennt man, wenn man in Italien hinter die beiden blauen Pkw schaut, die versuchen, am offenen Touristenbus vorbeizukommen: Auf dem Aussengang im obersten Stockwerk verjagt eine resolute Mutter mit Nudelholz den flüchtenden und nackten Liebhaber ihrer ebenso nackten Tochter…

Historie und Zukunft

Die erste Idee zum Miniatur-Wunderland hatte Frederik Braun, als durch die Züricher Innenstadt wandelte und ein Modellbahngeschäft erblickte. Das erinnerte ihn an seine eigene Kinderzeit – warum nicht so eine Landschaft für Kinder und Erwachsene neu bauen? Noch am gleichen Tag rief er seinen Zwillingsbruder Gerrit an und ließ ihm keine Wahl, „die größte Modelleisenbahn der Welt“ zu erstellen. Gerrit Braun hielt seinen Bruder erstmal für ziemlich übergeschnappt, aber nach sechs weiteren Telefongesprächen am gleichen Tag erkannte auch er das Potenzial und die Freude, die so etwas Bauer und Besucher machen könnte. Obwohl er sich klar war: „technisch sehr anspruchsvoll, wirtschaftlich riskant und unternehmerisch verrückt“. So begannen die beiden Disco- und Musiklabel-Betreiber mit ihrem Geschäftspartner Stephan Hertz ein Abenteuer.

In der Hamburger Speicherstadt fanden sie die richtigen Räume (Kehrwieder 2, 20457 Hamburg-Speicherstadt, www.miniatur-wunderland.de). Aus einem Casting mit 150 Handwerkern blieben 40 übrig, die die Fähigkeiten hatten, die Ideen umzusetzen. Im Oktober 2000 begann der erste Bauabschnitt. Als Chefmodellbauer konnten sie Gerhard Dauschner gewinnen, einer der anerkanntesten Modelbauer Deutschlands. Am 16. August 2001 war Eröffnung mit den ersten drei Welten Mitteldeutschland, Knuffingen und Österreich.

Heute existieren neun Bauabschnitte. Noch in diesem Jahr soll Monaco hinzukommen, 2022 Südamerika und die Provence, Mitte 2024 Mittelamerika und die Karibik. Ende 2026 soll dann auch ein Teil Asiens entstehen. Bisherige Baukosten des Miniatur-Wunderlandes: 36 Millionen Euro. Bisherige Besucherzahl: 19 Millionen.

Text und Fotos: R. Löwisch, Miniatur-Wunderland, VW

 

Diese Beiträge könnten Dir auch gefallen:

Facebook
Twitter
Pinterest
Tumblr