Mercedes-Benz 180 D 1958 Ponton

Ein Mercedes 180 D müsste man sein: Es garantiert ein Leben ohne Hektik, Aufregung und Stress. Warum das so ist, erzählt ein Ponton aus dem Baujahr 1958, der trotz aller Phlegmatik eine Menge von der Welt gesehen hat

Wenn man als Herz einen „OM 636“ eingepflanzt bekommt, dann sollte man schon von Haus aus einen Hang zur Behäbigkeit besitzen. Jedenfalls, wenn man ein Ponton Mercedes ist. Wir Pontons waren noch nie für Hektik zu haben, aber es ging immerhin stets vorwärts. Ich dagegen besitze mit dem mittlerweile legendären „Ölmotor“ 636 mit 40 PS das Temperament einer übergewichtigen 85jährigen Großmutter aus den Südstaaten. Und das ändert sich auch nicht viel, wenn das Herz beginnt, zu schlagen: Vom Stillstand bis auf 100 km/h benötige ich eine halbe Ewigkeit, nämlich im besten Falle 36 Sekunden.

Geboren wurde ich im Juli 1958 in Deutschland. Kurz danach durfte ich nach einer kurzen Zugfahrt eine schöne Schiffsreise Richtung USA erleben. Nach einigen weiteren Trips Huckepack auf der Straße lernte ich endlich meine Adoptiveltern kennen: Peter und Jean Kobar aus Minnesota. Mir waren die beiden ganz lieb, denn letztlich war es doch recht einsam in einem Geschäft zwischen ein paar weiteren Mercedes und ganz vielen Studebaker.

Ich war sehr stolz, als Peter und Jane enorme 3.000 Dollar für mich auf den Händlertisch blätterten und mich mit nach Hause nahmen in die Bryant Avenue 1835 in Minneapolis. Dort herrschte ein recht frisches Klima, aber das hat einen Kaltblüter wie mich nicht erschüttert. Außerdem durfte ich in einem kleinen Häuschen wohnen – ganz für mich allein.

Peter und Jean haben mich kaum beansprucht, so konnte ich in aller Ruhe reifen, mich an der wunderschönen Landschaft meiner neuen Heimat erquicken und mich vor allem darüber freuen, dass ich kaum in das in Minneapolis schon 1958 sehr anstrengende Verkehrsgewimmel der Innenstadt musste. Im Vergleich zu den dort verbreiteten Flossentieren vom Schlage eines Cadillac oder Chevrolet hätte ich im Leistungsvergleich nicht sehr vorteilhaft ausgesehen. Allerdings beim Tanken war ich stets der König: „Such a cute, tiny car! You´re sure it needs Diesel?“

Leider verstarb Jean schon 1960 und Peter mochte von da an kaum mehr aus dem Haus gehen. Vor allem waren die wenigen Ausflüge mit uns dreien eine derart heftige Erinnerung für ihn, dass er mich einfach in meinem Zimmer stehen ließ – mit gerade mal rund 2.000 Meilen auf dem Zähler.

Mein Herz, der OM 636, ist ein Dieselmotor von überbordendem Lebenswillen und niedrigem Blutdruck. Auf meiner Gesäßtasche prangt ganz profan das Schildchen „180 D“, aber bis in die heutige Zeit ist die Bezeichnung „OM 636“ ein stehender Begriff. Viele meiner verwandten Herzen wurden verwendet, um Boote oder Gabelstapler zu befeuern. Auch als Stationärmotoren sind unsere Pumpen herangezogen worden – und dies lange, nachdem wir als ganze Autos schon nicht mehr geboren wurden. Es soll noch heute Mummelgreise geben, deren OM 636-Herzen seit 50 und mehr Jahren schlagen. Zum Teil sogar ohne jede OP.

Nachdem dann mein Adoptivvater seiner Jean folgte, kam ich 1986 zu einem freundlichen Pflegevater namens Thomas Keller, der allerdings nur dazu auserkoren war, eine neue Familie für mich zu finden. Dazu hat er mich am 20. Juni 1987 bei einer Auktion einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Auf meinem Bewerbungsfoto blinzele ich im Katalog zusammen mit diversen anderen zur Adoption stehenden Wagen durchaus verschlafen in die Kamera und erzähle, dass ich erst 2.123 Meilen gelaufen bin. Am Ende ging es für mich gut aus und mein neuer Dad Arthur Hadley nahm mich mit nach Kalifornien. Ich bin inzwischen 10.000 Dollar wert – nicht schlecht, oder?

In meinem neuen Zuhause angekommen fand ich nicht nur wieder ein eigenes Zimmer und besonders für mein Alter angenehmere Temperaturen vor, sondern dachte mir, dass das kein Zufall sein kann, dass ich in den „Rolling Hills wohnte“.

Die Deutschen nennen mich heute sachlich „Ponton“, bei vielen Skandinaviern heiße ich „Bulle“ – wobei ich gar nicht weiß, ob die damit den Ordnungshüter, das männliche Rind oder das schwedische Gebäck meinen. „Rolling Hill“ hingegen gefiel mir. Das passt noch heute zu mir. Unerschütterlich, nicht aus der Ruhe zu bringen, durchaus hübsch anzusehen, altert augenscheinlich kaum, kann sich dazu herablassen, etwas umher zu rollen. Ich bin jetzt ein „rollender Berg“ . Arthur meinte es sehr gut mit mir, zeigte mich auf diversen Veranstaltungen herum, führte meinen unglaublich guten Erhaltungszustand vor, bekam jede Menge Schulterklopfer. Mir tätschelte so mancher Ami versonnen das Blech.

Art pflegte mich, als wäre ich eines seiner eigenen Kinder und führte sogar eine kleine Kladde mit einigen Vermerken, wann ich jeweils zu neuem Öl kam. Von 1991 bis 2012 brachte er mich 22 Mal zum Ölwechsel. Im Jahr 2007 erhielt ich sogar neue Schuhe. Die haben offenbar meine Ausdauer, denn ich laufe auch heute noch ganz hervorragend auf ihnen.

Als Art langsam zu alt wurde, vertraute er mich seinem Kumpel Roy Spencer an. Er betreibt mit Hilfe eines neumodischen Dingens namens „Homepage“ eine Vermittlungsagentur für Autos wie mich – ältere Mercedes. Es dauerte nicht allzu lange und ich durfte wieder auf eine Schiffreise gehen (ich frage mich, ob ich eventuell doch eher ein Boot bin – Immerhin habe ich mehr See- als Landmeilen abgespult). Roy verschaffte mir ein neues Zuhause in Holland bei inzwischen 5.500 Meilen Gesamtlaufzeit.

Nach kurzem Aufenthalt dort ging es auf meinen bislang letzten großen Trip nach Hamburg. Ein Mercedes-Truck – entfernte Verwandtschaft vermute ich – nahm mich ergriffen auf den Rücken und vertraute mich meinem aktuellen Pflegevater an. Der war so gut, mich gerade jetzt in meinem gesetzten Alter nicht der widrigen Witterung auszusetzen und ließ mir eine ordentliche Wäsche meines Bauches angedeihen – mit Trockeneis. Noch so ein neumodisches Zeug, aber herrlich.

Mein Öl ist ganz frisch, ich kann jetzt mit meinen nur leicht müden Augen im Takt klimpern und um die Zeit bis zur neuen, richtigen Adoptionsfamilie zu überbrücken, hat mich mein Pfleger sogar schon ausgeführt. Bei einer Tour um Hamburg bei schönem Wetter konnte ich zufrieden vor mich hin brummen. Besonders bei niedrigen Drehzahlen habe ich noch immer erstaunlich viel Kraft. Selbst bei 30 km/h kann ich locker im vierten Gang fahren. Und es geht verlässlich voran.

Hoffentlich fahre ich bald wieder zu einer Familie, die mir ein eigenes, kleines Reich einrichtet, mich mein weiteres Leben quasi verdösen lässt und mir nur manchmal die Umgebung bei gemeinsamen Unternehmungen zeigt. Zum Beispiel bei schönen Oldtimertreffen oder gar Ausfahrten – ganz verwegen auf eigener Achse…

Mercedes-Benz 180 D
Baujahr: 1958
Motor: Vierzylinder-Diesel
Hubraum: 1.767 ccm
Leistung: 30 kW (40 PS) 3.200/min
Max. Drehmoment: 98 Nm bei 2.000/min
Getriebe: Viergang-Handschalter
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4.485/1.740/1.560 mm
Gewicht: 1.220 kg
Beschleunigung 0-100 km/h: 36 Sek.
Top-Speed: 120 km/h
Preis 1958 USA/D: 3.000 Dollar/9.450 Mark

Text: Niels Baumann / Fotos: A. Aepler