Mercedes SL – Duell zweier Generationen

Alle reden vom SL. Kein Wunder: Die Mercedes-Baureihe ist 70 Jahre alt, die 7. Generation ist startbereit. Grund genug, zwei völlig unterschiedliche Vorgänger in der Gegend ihrer Geburt freizulassen: den Urgroßvater SL 300 Roadster von 1958 und die erste SL-Baureihe mit mehr als 500 PS, den SL 55 AMG von 2005

Es passiert ungefähr alle zehn Jahre, da lädt Mercedes zum großen SL-Fest: Fahren aller Generationen. Entweder, weil die Cabrio- und Roadster-Baureihe einen runden Geburtstag feiert. Wie jetzt. Oder, weil ein neuer SL auf seinen großen Auftritt wartet. Wie jetzt. Und dann hat man coronaflugreisenbedingt gerade mal vier Stunden Zeit. Wie jetzt. Manno, wenn das nicht unfair ist.

Denn das bedeutet eine echte Qual der Wahl – die Zeit reicht gerade für zwei Exemplare. Wir entscheiden uns erstens für den Ur-Opa, auch wenn eigentlich alles gesagt ist über den 300 SL Roadster von 1958: Ikone, Start einer nicht enden wollenden Baureihe, schon immer einer für die oberen Zehntausend. Aber wer würde nur deswegen diesen Diamanten des Automobilbaues links liegen lassen? Nee, weder links noch rechts.

Unsere zweite Wahl fällt auf den ersten SL, der die 500 PS Marke sprengte: den SL 55 AMG von 2005. Ein Zwei-Tonnen-Brecher, der noch heute so modern wirkt, dass ihn kaum jemand als Youngtimer erkennt. Klar, das Auto besitzt nicht den ikonischen Habitus eines 300 SL Roadster, aber 517 PS sind ja auch nicht zu verachten. Oder?

Wir starten mit dem 300 SL. Denn wer weiß, wie oft im Leben man noch einmal die Chance dazu hat. Das Museumsstück ist natürlich in einem bestechenden Zustand, technisch und optisch, und alleine die Tatsache, dass die Verantwortlichen uns nach sehr kurzer Einweisung alleine mit dem 1,4-Millionen-Euro-Teil in die feindliche Welt um Stuttgart entlässt, ist es wert, alle Autofahrersinne noch sensibler einzustellen, als sie eigentlich sowieso sein sollten. Apropos Einweisung: Die größte Gefahr ist es, eine angezogene Handbremse zu vergessen, die Qualm, Festbacken und somit Reparatur nach sich ziehen würde. Ansonsten ist alles ganz einfach: reinsetzen, zünden, Gang einlegen (alle vier Gänge hatte Mercedes damals schon synchronisiert) und genießen.

Das große Lenkrad kann man nur beim Flügeltürer abklappen für einen besseren Einstieg – aber in den offenen Roadster (das Dach ist schon heruntergeklappt, und das damals gegen Aufpreis lieferbare Hardtop nicht montiert) kann man fast elegant die Knie unter dem Bakelitvolant einfädeln und sich in den knallroten Sitz fallen lassen. Der Dreh am kleinen Zündschlüssel lässt sofort den großen, gekippt eingebauten Dreiliter-Sechszylinder starten, der mit einst gewaltigen 215 PS auf Action wartet. Wir rollen langsam vom Gelände des Mercedes Center of Excellence in Stuttgart, biegen auf die völlig kaputte Käsbrünnlestraße ein, merken, dass weder Getriebe noch Motor mit schiebebetriebartigem Fortkommen ein Problem haben und genießen ab dem ersten Meter, wie das Cockpit uns anlacht. Ja, tatsächlich, das rote Leder gemeinsam mit chromumrandeten Armaturen machen sofort gute Laune. Der reichlich vorhandene Platz, den man genießt, sowieso. Und dass man beim langsamen Fahren oder im Stand Muckis wegen fehlender Servolenkung braucht, ist einfach nur sportlich – stellen sie sich mal einen 300 SL Roadster mit City-Funktion in der Lenkung vor. Da würde sich ja Fritz Nallinger, der die Entwicklung des 300 SL Roadster maßgeblich geleitet hat, irgendwo völlig missmutig umdrehen.

Einflußnehmer waren übrigens auch die Amerikaner. Viele solvente Amis mochten zwar den 300 SL mit seinen unvergleichlichen Flügeltüren, aber in der geschlossenen Form fürchteten die klimaanlagenverwöhnten Neue-Welt-Bewohner, durch Hitzestau zuhauf einem Herzkasper zu erliegen (oder ähnlichem). Mercedes hatte in den USA die Ohren ganz weit offen und reagierte: Der Flügeltürer hatte 1957 ausgedient, der Nachfolger wurde der Roadster. Viele Änderungen waren nicht nötig: Bis auf das neue Dach wurde hauptsächlich der Gitterrohrrahmen an den Seiten niedriger gestaltet, so dass die Schweller tiefer lagen und zwei normale Türen Platz fanden. Und da die Amerikaner auch nicht gerade als Spezialisten im sportlichen Dahinrollen aufgrund superweicher Inlandsfahrzeuge galten, spendierte Stuttgart eine Eingelenk-Pendelachse, die das Auto leichter beherrschbar machte.

Schon alleine die mit 1.420 Kilo recht massive Präsenz sowie die Erhabenheit seiner chromblitzenden baden-württembergischen Majestät verbieten es heute, den deutschesten aller Roadster gemein zu treten oder testkonform in irgendwelche Kurven zu werfen. Es ist ein Reisewagen, in den schon damals wegen der kleinen Räder keine adäquaten Bremsen passten, weswegen die Modellreihe 1961 Scheibenbremsen von Dunlop erhielt. So pilotieren wir dieses Kleinod des Automobilbaues, das eigentlich ein Großod ist, gemütlich durchs Ländle, nutzen nicht die je nach Hinterachsübersetzung mögliche Top-Speed von 220 bis 250 km/h, genießen die bewundernden Blicke der Passanten, vergessen die gut 17 Liter Sprit, die pro 100 Kilometer verkostet werden und bringen letztlich alles unversehrt zurück zum Besitzer. Immer im Hinterkopf, dass nur 1858 Exemplare gebaut wurden und vielleicht noch 70 Prozent davon existieren. So viel mobile Historie will erstmal verdaut werden.

Deshalb gestaltet sich der Umstieg auf den SL der fünften Generation, den SL 55 AMG von 2005, so schwer wie leicht. Schwer, weil man nie weiß, wann man mal wieder einen 300 SL pilotieren kann, weil (bei mir) ein Klassiker einen Youngtimer alleine deshalb schlägt, weil er ein Klassiker ist und weil es sich beim Einstieg in den 2005er Power-SL gar nicht so anfühlt, als hätte dieses Auto auch schon 16 Jahre auf dem Buckel. Leicht, weil man sich hier an nichts gewöhnen muss – es ist ein scharfer Sportwagen, wie wir schon häufig gefahren sind. Alles fühlt sich modern an, ist ergonomisch sinnvoll angeordnet und die Sportsitze wissen, was Seitenhalt ist.

Damals (ja, 2005 ist aus heutiger Sicht auch schon „damals“) jubelten die SL-Fans bei Erscheinen des R 230, weil endlich wieder ein neuer SL deutlich an den Ur-SL erinnerte, was den Vorgängern nicht unbedingt nachgesagt wurde. Besonders ausgeprägt zeigten sich beim R 230 die seitlichen Lufteinlässe mit zwei waagerechten Streben, die beim Ur-SL bis in die Türen reichten und ihm schon im Stand Rasanz mitgaben.

Technisch allerdings bot der neue SL – präsentiert 2001 – viel Neues: DaimlerChrysler, wie der Mutterkonzern damals noch hieß, hatte alles ins Auto gestopft, was gut und teuer war. Da war zunächst das schon vom SLK bekannte Klappverdeck, genannt „Variodach“, jetzt in der zweiten Entwicklungsstufe. Es sparte gegenüber einem Stoffverdeck 45 Kilo ein, ließ beim SL einen Kofferraum übrig, der sich dank 235 Liter Ladevolumen auch so nennen durfte und machte das Auto ausgesprochen steif (tatsächlich bot der SL die gleiche Torsionssteife wie die damalige S-Klasse). Motorhaube, die vorderen Kotflügel, die Türen, der Kofferraumdeckel und die Tanktrennwand bestanden aus Aluminium, die Innenschalen der Türen sogar aus Magnesium. Trotzdem gipfelte die Masse nach der dritten Überarbeitung der SL 55 AMG-Baureihe (wie bei unserem Testexemplar) in fast zwei Tonnen Gewicht. Was zumindest das L vom „SL“ ad absurdum führte: Das „S“ stand immer für „Super“, das „L“ für „Leicht“….

Was beim Fahren allerdings kaum auffällt. Kein Wunder, kam der AMG doch zuerst mit schon beeindruckenden 476 PS und 650 Nm, was 2003 auf 500 PS ausgerundet wurde, um 2006 dann in einer dritten Überarbeitung bei 517 PS seinen Top-Wert fand. Die Kraft entfaltet ein wunderbarer V8-Kompressor mit 5,5 Litern Hubraum, der hier in der letzten Ausbaustufe 720 Newtonmeter bereitstellt. Kurios: Mit 250 km/h ist er trotz aller Kraft im elektronisch begrenzten Top-Tempo (nur mit Performance-Package sind 300 km/h drin) nicht schneller als der 48 Jahre ältere Ur-SL Roadster mit einer auf Top-Speed kalibrierten Hinterachse. Die Zeit zum Sprint auf 100 km/h hat sich allerdings gut halbiert. Zur Ehrenrettung allerdings sei gesagt: In einem Sportwagenvergleichstest rannte ein freigelassener SL 55 AMG 325 km/h und ließ die supersportliche Konkurrenz von Ferrari, Aston Martin und Porsche damit hinter sich. Nur ein Lambo war schneller – dabei war der AMG noch der günstigste Sportler im Vergleich mit anfangs 124.234 Euro.

Also hinein in den SL von 2005. Da kostete er inzwischen 131.660 Euro. Fünf Gänge waren up to date, natürlich zusammengefasst in einer Automatikbox, die man durch Schaltwippen beinflussen konnte. Die große Frontscheibe schützt gut vor dem Fahrtwind, und wie es bei einem kommoden Sportler sein muss, liegen Drehzahlmesser und Tacho (bis 330 km/h) einträchtig groß im Blickfeld des Piloten. Das Lenkrad ist gespickt mit Schaltern, die Verarbeitung ist mercedeslike tadellos, die Materialanmutung perfekt. Alt? Nein, dieses Auto ist nicht alt.

Und es beinhaltet schon viel mehr moderne Features, als man heute denkt. Denn bereits bei der Präsentation Anfang des Jahrtausends hatten die Ingenieure dem R 230 als Weltneuheit das elektrohydraulische Bremssystem SBC (Sensonic Brake Control) spendiert: Es baute extrem schnell Druck auf infolge des Verhaltens von Fahrer und Fahrzeug. Gemeinsam mit ESP und der Active Body Control (ABC) bildete es ein perfektes Sicherheitssystem.

Das wir bei unserer Ausfahrt weder beanspruchen wollen noch tatsächlich beanspruchen müssen, schließlich sind wir auf öffentlichen Straßen unterwegs. Wobei es durchaus und problemlos möglich ist, das Vieraugengesicht sportlich über die Hügel um Stuttgart zu scheuchen. Schon schwieriger ist es, nicht mit qualmenden Reifen loszufahren. Die Kraft des 517-PS-Frontmotors wird so unmittelbar auf die Hinterräder geleitet, dass man problemlos auch noch im zweiten oder dritten Gang die Gegend einnebeln könnte. Wobei wir deshalb nicht ins Schwitzen kommen, weil Mercedes die Option eines belüfteten Sitzes anbot – acht kleine Ventilatoren schickten Luft durch Gestühl zum verlängerten Rücken. Die Vorteile der neuen Klimaautomatik (kann die Anzahl der Passagiere erkennen, misst die Sonneneinstrahlung mittels Sensors auf der Motorhaube, kann Giftstoffe in der Außenluft feststellen) genießen wir nicht, weil es in diesem Sommer keinen Grund gibt, das hochgelobte Klappdach zu schließen.

Und so blubbern wir bei einem Verbrauch von etwa 14,2 Liter auf 100 Kilometer in Richtung Calw und schminken uns ab, so ein Auto besitzen zu wollen. Zwar ist so ein AMG 55 SL gar nicht so wahnsinnig teuer – für gute Exemplare zahlt man etwa 50.000 Euro. Aber die Unterhaltskosten…

Viel zu schnell müssen wir Stuttgart wieder verlassen. Aber zumindest in dem seeligen Wissen, diese beiden Wahnsinnsautos im Leben nicht verpasst zu haben. Für die anderen Modell-Generationen müssen wir allerdings wohl nochmal ins Ländle…

Technische Daten

Mercedes SL 300 Roadster

Baujahr: 1958
Motor: Sechszylinder-Reihenmotor
Hubraum: 2.996 ccm
Leistung: 158 kW (215 PS) bei 5.800/min
Max. Drehmoment: 274 Nm bei 4.600/min
Getriebe: Viergang-Handschalter
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4.570/1.790/1.300 mm
Gewicht: 1.420 Kilo
Sprint 0-100 km/h: 10,0 Sek.Top-Speed: 220 bis 250 km/h
Preis 1957: 32.500 Deutsche Mark
Wert 2021: ca. 1.4 Millionen Euro

Technische Daten

Mercedes SL 55 AMG

Baujahr: 2005
Motor: V8-Kompressor
Hubraum: 5.439 ccm
Leistung: 368 kW (517 PS) bei 6.100/min
Max. Drehmoment: 720 Nm bei 2.600 – 4.000/min
Getriebe: Fünfgang-Speedshift-Automatik
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4.535/1.827/1.295 mm
Gewicht: 1.955 Kilo
Sprint 0-100 km/h: 4,5 Sek.
Top-Speed: 250 km/h, 300 km/h
Preis 2006: 131.660 Euro
Wert 2021: ca. 50.000 Euro

Text: Roland Löwisch, Fotos: Mercedes-Benz, Löwisch

 

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