Der Ro den es nie gab: NSU Ro 80 871i Konzeptfahrzeug 1977

Der NSU Ro 80 war schon als Serienauto mit dem Wankelmotor seiner Zeit 20 Jahre voraus. Er hätte auch nach 1977 weiterleben sollen – als Über-Limousine mit Komfort, Kraft und K-Jetronic. Dazu kam es nicht. Aber ein einziges Exemplar ist nach den alten Ideen so aufgebaut worden, wie er hätte werden können

Mechanisches Sirren – hoch, kraftvoll, anders. Fast wie bei einem Flugzeug. Aber durchaus erdgebunden gleitet ein dunkelblauer Keil aus der Halle, und es ist bei weitem nicht einer dieser Keile, über die schon alles gesagt wurde: Es sieht aus wie ein Ro 80 mit Zweischeiben-Wankelmotor – aber es ist ein Ro 80 mit Kreiskolbenmotor „EA 871“. Ein Einzelstück. Wie es ihn hätte früher geben sollen, aber letztendlich nie gegeben hat. Es fehlte den ursprünglichen Visionären an Mut und Durchsetzungsvermögen. Und NSU war inzwischen Audi, und Audi ein Teil des Hauses Volkswagen.

Das Auto gehört Martin aus Norddeutschland. Über seinen Nachnamen macht er genau so wenig Gewese wie über das Unikat, was er besitzt. Er tippt mit der rechten Hand den langen Schalthebel an – ein Kupplungspedal gibt es nicht. Dank elektrischer Fensterheber fahren die Seitenscheiben hoch, damit der Westwind draußen bleibt. Während nach dem Druck aufs Gaspedal die Drehzahl auf mehr als 6000 Umdrehungen klettert und noch lange nicht im roten Bereich landet (den gibt es nämlich nicht), werden unsere unvorbereiteten Körper in die beheizten Ledersitze gedrückt. 120, 140, 160 km/h. Das geht einfach immer weiter so, und dieses Ding aus einer anderen Zeit wird dabei immer – leiser. Unheimlich. Hier passt nichts zu gewöhnlichen Denkweisen. Die Drehzahl nicht zum Geräuschniveau, die Geschwindigkeit nicht zum Baujahr und die Ausstattung nicht in die 70er. Wie denn auch? Dieses Auto hat es ja nie gegeben.

Der Weg bis zum Ende der Legende beginnt mit ganz anderen Maschinen und ist gezeichnet von immerwährender Entwicklung und neuen Ideen. Ab 1884 betrieb Christian Schmidt nach einem Streit mit seinem vorherigen Kompagnon in Eigenregie die Neckarsulmer Strickmaschinenfabrik AG. Man verlagerte das Geschäft bald auf Fahrräder und hob die Marke NSU (von NeckarSUlm) ins Leben. Auch mit vier Rädern kamen die Ingenieure in Berührung und fertigten Fahrgestelle für Daimler und Peugeot. 1934 baute Porsche bei NSU die drei Prototypen des Typ 32, dem Vorgänger des Käfers.
Nach dem zweiten Weltkrieg stieg man in die Motorenproduktion ein, und NSU war 1955 sogar der weltgrößte Hersteller von Motorrädern.

Autodidakt Felix Wankel, der selbst keinen Führerschein hatte, arbeitete seit Beginn der 50er Jahre für die Firma an innovativen Motorenkonzepten. Seine völlig neuen Drehkolbenkompressoren und Drehkolbenmotoren ließen den Aktienkurs von NSU von 127 Mark im Jahr 1957 auf fast 3000 Mark im Jahr 1960 explodieren.

1964 war das Motorenkonzept so weit entwickelt, dass erstmalig ein Motor mit einem rotierenden statt mehrerer sich auf und ab bewegender Kolben in einem Serienauto arbeitet – im NSU Spider. 1967 erblickte der Ro 80 das Licht der Weltöffentlichkeit und war mit seinem Design von Claus Luthe und seinem Zweischeiben-Wankelmotor die Sensation, die in der selben Sekunde die traditionellen Autobauer sprichwörtlich alt aussehen ließ.

Schnell verschleißende Dichtleisten – besonders im Kurzstreckenbetrieb – setzten sich kurz darauf wie ein Geschwür in die verunsicherten Köpfe der Presse und der Kundschaft. Das Problem war schon zwei Jahre nach den ersten Auslieferungen vollständig beseitigt, aber der neue Weg des Wankel-NSU fuhr nun in eine andere Richtung. 1969 fusionierte NSU mit Audi zur AudiNSU AG, und die dem Ro 80 gestattete Gnadenfrist bis 1977 reichte nicht, um das Modell zu retten. Vielleicht war es aber auch nicht gewünscht.

Die letzte Ausbaustufe des Wankelmotors sollte der „EntwicklungsAuftrag“ EA 871 sein, der mit höherem Kammervolumen von 750 Kubik pro Kammer, Doppelzündung und einem Solex-Doppel-Register-Vergaser Pierburg 4A1 stattliche 170 PS lieferte. Die Dichtleisten dichteten perfekt und waren gut für weit mehr als 200.000 Kilometer, das Drehmoment war gleich bleibend kraftvoll über den gesamten wahnsinnigen Drehzahlbereich und entsprach zeitgenössischen Sechszylindern in der Dreiliter-Hubraumdimension, die aber wesentlich größer und schwerer waren.

Ideen gab es 1977 viele. Man verbaute den Motor in einige Audi 100 und 200 Typ 43 Limousinen und ließ die Vorstandsvorsitzenden damit herumfahren. Und einige ganz wenige Rumpfaggregate bekamen die neue K-Jetronic-Einspritzanlage von Bosch eingepflanzt, womit das Triebwerk dem aus der Kunst bekannten „goldenen Schnitt“ glich und nahezu perfekt war. Die Einspritzer kamen je nach Zündanlage auf 190 bis 200 PS.

Als man im Vorstand von Volkswagen das Ende des Wankels beschloss, lagen noch ein paar ungenutzte Ideen in den Schubladen, die den Ro 80 zu einem luxuriösen Über-Auto gekürt hätten, einem nie da gewesenen Projektil aus Design, Kraft und Luxus. Und nach genau diesen Ideen hat Guido Rapsch den Power-Ro 80 ausgebaut. Einige der damaligen Versuchsmotoren sind in Sammlerhand gelandet, und die endlose und langwierige Recherche nach Unterlagen, Einstellhinweisen und Spezifikationen führte irgendwann bei dem Wankelenthusiasten und -spezialisten im Frankenländle zum Erfolg. In diesem mitternachtblauen Ro 80, dem Drittletzten jemals gebauten, arbeitet einer der fünf einzigen Werks-Wankel mit Einspritzung. Entwickelt von den letzten verbliebenen NSU Ingenieuren, feinabgestimmt von Porsche in Weissach. Die anderen vier sind in Museen oder direkt bei Audi eingelagert.

Während die Landschaft unscharf an uns vorbeizischt, haben wir uns noch immer nicht an das gewöhnt, was vor und um uns herum ist. 1977? Niemals. Stimmt, einige der eingebauten Teile sind auch etwas neuer, aber so, genau so hätte der Wagen werden sollen. Durch die Gemischeinspritzung viel schneller und agiler als das ohnehin schon flotte Original. Ein umgebauter Drehmomentwandler plus Kupplung vom Porsche 911 sorgen für die richtige Kraftentfaltung. Elektrische Ledersitze, beheizt und mit Memory aus einem Audi V8 und elektrische Fensterheber verströmen den dezenten Charme der Oberklasse, wie Audi ihn erst zehn Jahre später erreichen sollte. Das Schiebedach und die Rückspiegel sind ebenfalls elektrisch. Breite Reifen 205-55-ZR16 auf 7×16-Fuchsfelgen drehen an einem optimierten Fahrwerk mit progressiven Federn und Stabilisator, und das Ding läuft und läuft und läuft.

Egal, wo wir anhalten, immer kommen die „Fachleute“ der 70er ans Auto und sagen „Herrje, der Ro 80, da waren doch immer die Motoren kaputt…“ Noch immer. Dabei waren es nur die allerersten Modelle der ersten beiden Baujahre. Aber ist der Ruf erst ruiniert…
Martin fährt seit zehn Jahren neben seinem Alltagsauto einen Ro 80. Von dem heimlichen Prototypen hat er über die gut organisierte Szene erfahren und ihn vor drei Jahren aus Bayreuth mit einem Trailer geholt. Auch wenn das Grundkonzept des Ro 80 schon genial war – ein Prototyp ist wie die Sahne auf dem Kuchen. An dem Wagen musste nichts gemacht werden, und auch in den Jahren des Fahrens hatte er weder Macken noch Pannen noch Defekte. Ein ausgereiftes, 40 Jahre altes Auto. bleifreitauglich, mit 220 PS und vier Zündspulen für vier Zündkerzen.

Die Originalitätsfanatiker werden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber was kann man schon original aufbauen, wenn es kein Original gibt? Die Verschwörungstheoretiker wiederum schreien und weinen über die damaligen Entscheidungen, und am Ende ist es aus heutiger Sicht doch auch völlig egal, warum seinerzeit welche Entscheidungen getroffen wurden. VW hatte den K70 sterben lassen, weil er nur auf Drängen der alten NSU-Kundschaft mit übernommen und von NSU-Perfektion auf VW-Sachlichkeit reduziert wurde. Außerdem machte er dem Passat Konkurrenz. Und VW hat den Ro 80 sterben lassen, weil er zu gewagt war und zu wenig Rendite abwarf. So lagen eben die Prioritäten, Deutschland besann sich lieber auf Althergebrachtes.

Aber was kümmert das die Enthusiasten in der Szene? Sie sind noch immer Andersdenkende, Avantgardisten, High-Tech-Bastler und Ingenieure. Ein exklusiveres Auto als den Ro 80 kann man auch heute kaum fahren, zumal selbst gute Fahrzeuge nicht die Welt kosten und die Ersatzteillage überschaubar ist. Nur trauen muss man sich. Weil sie noch immer im Kopf ist, diese Legende von den sich begegnenden Ro 80 Fahrern, die mit den erhobenen Fingern der linken Hand aus dem Fenster dem anderen zeigen, wie viele Motoren sie schon verschlissen haben.

Was für ein Unsinn. Martin denkt weiter. Er hinterfragt gründlich. Und er erlebt selbst. Das ist die Denkweise, die einen voranbringt, ob nun mit sich hebenden und senkenden oder mit rotierenden Kolben…

TECHNISCHE DATEN

Audi / NSU Ro 80

Baujahr: 1977
Motor: Zweischeiben-Rotationskolbenmotor
Hubraum: 1.499 ccm
Leistung: 162 kW (220 PS) bei 6.500/min
Max. Drehmoment: 260 Nm bei 3.000/min
Getriebe: Dreistufen-Halbautomatik
Antrieb: Vorderräder
Länge/Breite/Höhe: 4.780/1.760/1.410 mm
Leergewicht: 1.130 Kg
Beschleunigung 0-100 km/h: 10,5 Sek.
Top-Speed: 210 km/h
Wert: ca. 45.000 Euro

Text und Fotos: Jens Tanz

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