POINT MAN (EIN LEBEN FÜR DETROIT): Totales Fahrverbot

Seit dem 1. Januar 2020 befinden wir uns nicht nur ein einem neuen Jahrzehnt – seit dem 1. Januar gilt auch daß erweiterte Dieselfahrverbot in Stuttgart. Seien Sie nicht traurig, wenn man Sie aus der Stadt geworfen hat – sie befinden sich in bester Gesellschaft. 

Eines schönen Sonntag Nachmittags, mitten im sonnigen Sommer 2019, sind Jeansey Klinger und ich nachschauen gegegangen, was der Automobilbau sonst noch so zu bieten hat. Friedrich Langer, der ohnehin für einen Automobilbauer tätig ist, wollte nicht mit. „Ich hab des schon jeden Tag“ hat er gesagt, und damit war das erledigt. Also sind Jeansey und ich ohne Friedrich hinunter ins Tal gefahren, und dann auf der anderen Seite wieder hinauf, und dann wieder hinunter (Stuttgart eben, waren Sie noch nie hier?), und dann haben wir in Zuffenhausen das Museum eines bekannten deutschen Sportwagenherstellers besucht.

Das an sich ist nicht von großer Bedeutung, oder viel mehr, es ist Alltag für Stuttgarter Autofans. Ich glaube, ich war das erste Mal in diesem Museum als es noch eine einzelne, zugige Halle von der Größe eines Schuhkartons war. An diesem speziellen Tag im Sommer 2019 war allerdings einer der Paris-Dakar-Rallyewagen da, und falls Sie die nicht kennen, Schande über Sie, diese Autos sind eins der beachtlichsten Stücke deutscher Automobilgeschichte überhaupt. Der hier beschriebene Hersteller, wenn Sie mich fragen, hat derzeit eine zu enge Verbindung zu Männern mit ein ganz klein wenig zu langen Haaren, ein ganz klein wenig zu pinkfarbenen Kleidungsstücken, und diesen hochgeklappten Polohemdkragen. Menschen, die Abenteuer lieber darstellen als erleben, wenn ich hier eben generalisieren darf, Menschen eben, die kontrollierte Rahmenbedingungen schätzen. Die Wüsten-959 hingegen sind ein, vielleicht das letzte, Beispiel, von rohem, unkontrollierten „Weil-wir-können-und-uns-niemand-dran-hindert“-Underdogtum im deutschen Automobilbau. Was, bitte, hat sich wer, bitte, dabei gedacht?

„Gruppe B“ ist das Schlagwort, und Gruppe B ist wahrscheinlich das letzte Mal gewesen, daß deutsche Automobil-Ingenieure so richtig die Sau rausgelassen haben, ohne sich im geringsten um das Konzernimage, Produkthaftung oder Konsumentenakzeptanz zu scheren. „Killer B’s“ nennen Amerikaner die einzige europäische Automobilsportklasse, die von der neuen Welt jemals mit Respekt und Ehrfurcht betrachtet worden ist, und das Wortspiel setzte ich jetzt einfach als verstanden voraus. Den 959 für Paris-Dakar, der eigentlich in der Gruppe B hätte antreten sollen, hätte man dieser nicht die Notbremse gezogen, stellen Sie sich bitte als den amerikanischten aller deutschen Sportwagen vor: An sich völlig ungeeignet für den Einsatzzweck, was durch dramatische Übermotorisierung, ordentlich überdimensionertes Material und eine gehörige Portion Todesverachtung kompensiert wurde. Schauen Sie sich alleine mal diese Felgen an, und sagen Sie mir, was hier schwerer wiegt, German Engineering oder amerikanische „Things-will-go-boom“-Attitüde.

Gleichgewicht, sage ich, und deswegen erfolgreich. Jeansey hat nur genickt. Schwierig zu sagen, was er über Zuffenhausener Sportwagen denkt. Wenn Sie das besagte Museum kennen, dann wissen Sie auch, daß es nicht besonders groß ist, immer noch nicht, und deshalb war es immer noch sonnig, als wir wieder draußen im Auto saßen und dabei waren, den Rückweg anzutreten. Für den weiteren Verlauf der Erzählung ist es wichtig, daß  Sie wissen, um was für ein Automobil es sich dabei gehandelt hat, und deshalb sei Ihnen mitgeteilt, daß es Jeanseys 82er Chevy Impala war, ein gepflegtes, unauffälliges und flüsterleises ehemaliges Behördenfahrzeug, 37 Jahre alt, bei beneidenswerten 19.000 Originalmeilen.

Sie können sich unsere Überraschung vorstellen, als wir an jenem friedlichen Sonntag aus heiterem Himmel plötzlich mit einem Totalen Fahrverbot belegt wurden, und zwar von einer fahrradschiebenden, ordentlich gekleideten Dame um die 60, die, an einer Ampel stehend, angesichts von Jeanseys Chevy komplett und total die Fassung verloren hat, und – laut brüllend – vor uns auf die Straße gestürmt ist. „Raus aus Stuttgart, ihr Schweine!“ ist nur einer von etlichen Sätzen, die der arme Jeansey an den Kopf geknallt bekommen hat, wobei „Wegen euch Drecksschweinen“ – und auch das ist ein Zitat, „darf mein kleiner Diesel nicht mehr in die Stadt rein“ mein persönlicher Favorit ist.

Sie dürfen mir glauben, daß sich diese Szene vor einer größeren Gruppe von Passanten am hellichten Tag abgespielt hat, und Jeansey trotzdem gezwungen war, um die geifernde Frauperson herumzufahren, die quasi im Begriff war, uns physikalisch den Weg in die Innenstadt zu verstellen.

Jeansey, nur falls Sie ihn noch nie getroffen haben, gehört zu der Sorte Mensch, denen es komplett egal ist, welche Meinung Sie sich über ihn angemaßt haben, aber selbst er konnte ein irritiertes Kopfschütteln nicht unterdrücken. Stellen Sie sich die moralische Last auf seinen Schultern vor, wo er doch mit seinem Impala ganz allein ein Fahrverbot für arme kleine Diesel in Stuttgart verursacht hat.

Er wars. Nicht ich. Nicht Sie. Nicht 600.000 Berufspendler, die alleine um Stuttgart herum auf den deutschen Dieselbetrug hereingefallen sind. Jeansey wars, der alte Alleintäter.

Beinahe könnte ich das Ganze wirklich witzig finden. Beinahe. Aber mir fehlt Jeanseys Gleichmut. Vielleicht habe ich Anger Management-Probleme, vielleicht kann ich geballte Dummheit einfach nicht ertragen. Dummheit, ja, ok, aber SO VIEL Dummheit? Verzeihen Sie mir. Diese Situation ist auf so vielen Ebenen problematisch, daß ich Nummern vergeben muß, wenn die Aufarbeitung überischtlich bleiben soll. Deshalb:

1. Nur fürs Protokoll: Abgasreinigung im Automobilbau beginnt in den USA 1965 mit der Kurbelgehäuse-Zwangsentlüftung und nimmt ihre größte Hürde 1975 mit der Einführung von bleifreiem Benzin und der zeitgleich in Kraft tretenden Katalysator-Pflicht.

2. Nur damit wir absolut sicher sein können, daß der Kernaspekt hier verstanden wurde: ALLE nach dem Modelljahr 1974 in den USA gebauten Automobile waren mit Katalysatoren ausgerüstet. Seit dem Modelljahr 1993 sind US-Automobile allgemein E10-tauglich.

3. Obwohl die Technik seit 1975 in den USA Standard war, haben die deutschen Automobilbauer erst 1993 bemerkt, daß Katalysatoren auch in Deutschland funktionieren, ganze 18 Jahre später. E10, wie Sie sicher wissen, wurde 2011 in Deutschland unter massiven Zweifeln und ohne Unterstützung der Autohersteller eingeführt, ebenfalls 18 Jahre, nachdem die gesamte US-Automobilproduktion E10-tauglich geworden war.

4. Zeitgleich mit den amerikansichen Bemühungen, Verbrenner-Abgase so weit wie möglich zu reinigen, haben die deutschen Hersteller sich schwer ins Zeug gelegt, den Heimatmarkt ungeachtet aller Umweltbedenken durch Isolationstechniken vor der US-Importbedrohung zu schützen – nämlich durch die Konditionierung deutscher Autofahrer auf einen ungesunden Nischenkraftstoff, dem kein ausländischer Autohersteller, schon gar kein amerikanischer, große Bedeutung zugemessen hat: Diesel.

5. Nur für den Fall, daß Sie das auch noch nicht erkannt haben: Diesel existiert außerhalb von Deutschland und seinen unmittelbar angrenzenden Nachbarstaaten faktisch nicht. Nicht in Japan, nicht in den USA, nicht in China und auch nicht in Südamerika. Einzige Ausnahme ist Indien.

6. Indien, falls Sie vorhatten, diesen Punkt zum Argument zu machen, hat die weitreichendsten Zwangs-Elekrtifizierungspläne für Fortbewegungsmittel weltweit. Dreimal dürfen Sie raten, warum. Selbst in den deutschen Anliegerstaaten – damit ist hauptsächlich Frankreich gemeint – sind Diesel-Neuzulassungen stark rückläufig.

7. Damit die von Natur aus ordentlich konditionierten deutschen Autokäufer die offensichtlichen Konsequenzen des Dieselbooms möglichst lange ignorieren, haben die deutschen Hersteller gemeinsam einen Abgasskandal verursacht, erinnern Sie sich noch? Ist gar nicht lange her.

8. Wollen Sie mir bitte erklären, warum Diesel-PKW-Verkäufe seit dem Abgasskandal in Deutschland ZUGELEGT haben? Oh Gott, darf ich bitte jemand ohrfeigen?

9. Kommen Sie mir bitte nicht mit der Parole vom unerforschten Feinstaub und den willkürlichen Grenzwertziehungen. Ich bin Stuttgarter, von Geburt an und mit Überzeugung, und ich habe 10 Jahre am Neckartor gelebt, 90 Meter von jenem berühmten Meßpunkt entfernt, und habe am eigenen Leib erfahren, was der Dieselboom den Stadtbewohnern angetan hat, und wie die Atemluft von Jahr zu Jahr schlechter geworden ist. Verbringen Sie erst 10 Jahre am Neckartor, bevor Sie in meiner Gegenwart Halbwahrheiten über Feinstaubgrenzwerte zum Besten geben, ich warne Sie mit allem mir zur Verfügung stehenden Nachdruck.

10. Bereit? Dann jetzt: Das Diesel-Fahrverbot in Stuttgart und vergleichbaren deutschen Großstädten, so kontrovers, unpopulär und pendlerfeindlich es sein mag, gehört zum menschenfreundlichsten, was deutsche Gesetzgeber je ins Leben gerufen haben, mit Ausnahme des § 218a StGB vielleicht.

11. Und wissen Sie was? Selber schuld. Eine weltweit einizigartige Alternative zum Ottokraftstoff? Und auch noch sparsamer? Und auch noch STEUERBEGÜNSTIGT? OHNE NACHTEILE??? Wissen Sie, was Sie tun würden, wenn Ihnen jemand auf diese Art und Weise ein anderweitiges Produkt anbietet? Sie würden Bauernfängerei, Scharlatanerei, schlimmer noch, Betrug wittern, und zwar umgehend. Nur beim Diesel, das sind alle kollektiv reingefallen, gell? 10 Cent pro Liter sparen war dann doch zu verlockend, nicht wahr?

So. Unterbrechen wir die Aufzählung hier für einen Moment, damit wir uns ausreichend auf die nächste Nummer vorbereiten können. Ich bin im Stuttgarter Westen geboren, ich darf mich also auf Geburtsrechte berufen. Ich bin Hardcore-Autofahrer, habe außerdem keine Kinder, dafür aber mindestens 25 Autos und etliche Schrotflinten, und wenn Sie auch noch eine politische Motivation brauchen… Ich glaube an die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, an den Rechtsstaat, und ganz besonders an Artikel 20 Abs.4 des Grundgesetzes. Haben Sie das? Behalten Sie das vor Augen, wenn Sie den nächsten Punkt lesen:

Keine Ahnung, wie das in IHRER Stadt aussieht, aber was Stuttgart heute eigentlich braucht ist eine autofreie Innenstadt, und wenns nur deshalb ist, weil die heute dort hausenden modernen Großstadt-Kleinfamilien sich daß so wünschen, denn so funktioniert Demokratie eben leider. Nur Dieselfrei wird langfristig nicht ausreichen.

Klar soweit? Dann lassen Sie mich das jetzt sauber abschließen: Derzeit, ungeachtet aller kommenden Veränderungen und allem definitiv bestehenden Handlungsbedarf, derzeit, steht niemand, gleich welcher Gesinnung, politischer Motivation oder sonstiger Hintergründe, das Recht zu, Jeanseys Impala am Befahren der Stuttgarter Innenstadt zu hindern. Nicht technisch, nicht rechtlich, nicht moralisch. Ist halt immer zweiseitig, die Medallie.

Es ist schon beinahe amüsant, daß gerade die Unternehmen, die die Dieselkrise erst herbeigeführt haben, jetzt davon profitieren, daß die Ausgesperrten nun kurzfristig neue Autos kaufen müssen… Eigentlich würde ich Ihnen ja dringend nahelegen, jetzt ein ausländisches Produkt, einen Japaner zum Beispiel, zu kaufen, einfach nur zur Gegenwehr – andererseits ist der Wohlstand Süddeutschlands nun einmal vom deutschen Autobau abhängig. Sehen Sie? Politik. Da ich keine besseren Vorschläge habe, halte ich mich da üblicherweise raus.

www.detroit-performance.de

Text und Fotos: Sönke Priebe

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