POINT MAN (EIN LEBEN FÜR DETROIT): CHEAP TRICK

Hin und wieder, wenn die Umstände es gebieten, verschenke ich Autos. Auch Ihnen würde ich gerne eins schenken, wenn es dem Zweck dient, Sie endlich auf die Seite des amerikanischen Automobilbaus zu ziehen, muß aber eingestehen, daß damit meine Mittel wahrscheinlich überstrapaziert würden. Darf ich Ihnen stattdessen einen guten Tip geben?

Angenommen, Sie lesen diese Zeilen im Frühjahr 2020, und Sie haben noch kein amerikanisches Auto, vielleicht weil Sie erst jetzt angefangen haben, sich dafür zu interessieren, vielleicht, weil Sie gerade erst einen Führerschein gemacht haben…

Ich könnte mir vorstellen, daß ein einziger, simpler Umstand Ihnen den Zugang zu diesem Thema verbaut: Geld. Vielleicht, weil Sie keine 40.000 € ausgeben wollen, um herauszufinden, ob Sie wirklich ein Car Guy sind, vielleicht, weil Sie gar keine 40.000 € für solche Späße haben.

Technisch gesehen, lassen Sie mich Sie da beruhigen, brauchen Sie zwar keine 40.000 €, aber unter uns, wenn Sie nicht mindestens 20.000 € in die Hand nehmen, bekommen Sie keinen der großen Namen in einem akzeptablen Zustand. Und das weite Feld der nicht-ganz-so-großen Namen ist gespickt mit nicht-ganz-so-großen Marken und erheblichen Fehlerquellen. Abschreckend, um es auf den Punkt zu bringen. Egal wie man es dreht und wendet, das „Traditionelle“ Klassikersegment, 1950-1970, ist inzwischen mit etlichen Zugangshindernissen bewehrt.

1 - Corvette: Da diese Geschichte von einer Corvette handelt, hier bitte: Die 3. generation Corvette, 1968-1982

Sie könnten sich natürlich einen „modernen“ Amrikaner kaufen, aber hier geht es letzlich nur um Klassiker. Was, also, machen wir jetzt? Ich hätte da einen Vorschlag… Der Vorschlag aber erfordert, daß wir das dominierende Paradigma der traditionellen Klassikerwelt abschütteln.

Dominierende Paradigmen abschütteln ist, natürlich, so ziemlich das schwerste, was ein Mensch in der westlichen Welt an einem beliebigen Wochentag tun kann, aber unter uns: Es schaut niemand zu. Probieren wir es einfach mal. Also: Autos, ganz besonders amerikanische Autos, haben von 1885 bis 1970 einen niemals endenden Aufwärtstrend in Leistung, Größe und Ausstattung erlebt. Nach 85 Jahren stetigen Wachstums aber ist der Markt aus verschiedenen historischen Gründen in sich zusammengebrochen – was ab 1975 zur völlig berechtigten Annahme geführt hat, ECHTE Autos seien ein Ding der Vergangenheit, das niemals wiederkäme. Diejenigen, die diesen Bruch miterlebt haben, also grob alle bis 1960 geborenen Menschen, haben diese – damals durchaus berechtigte – Sicht- und Denkweise an die ihr folgende Generation vererbt (das sind die bis grob 1980 geborenen), die zwar nicht mehr miterlebt haben, aber noch lebhafter Berichterstattung ausgesetzt waren.

Nehmen Sie jetzt die Generation nach dieser, die sich weder erinnern kann, noch mit Zeitzeugen zu tun hat, aber dennoch gewohnheitsmäßig – und hier haben Sie das Paradigma – wiederholt, was zwei Generationen lang herrschende Meinung gewesen ist: Klassiker gabs bis 1970, alles danach sind keine echten Autos mehr. Fragen Sie mal einen Vertreter dieser Denkweise nach den konkreten historischen Gegebenheiten, die diese Ansicht untermauern. Ich lege die Hand dafür inds Feuer, daß beinahe niemand unter 50 die Zusammenhänge noch logisch und chronologisch zusammenbekommt.

(Stichwörter, falls Sie das wirklich interessiert: California Air Resources Board, Clean Air Act, Ralph Nader & Unsafe at Any Speed, Five-Mile-Impact, Jom-Kippur-Krieg und das Ende des Dritten Tempels, Ölkrise, CAFE. „Import“ und „Versicherung“ sind, nur um das nochmals deutlich hervorzuheben, NICHT Bestandteil dieser Stichwortliste). 

Machen wir jetzt einen Test. Achtung: Fantastische, sammlungs- und fahrwürdige Autos gab es auch in den Siebzigern, den Achtzigern und den Neunzigern.

Ich sage es nochmal: Fantastische, sammlungs- und fahrwürdige Autos gab es auch in den Siebzigern, den Achtzigern und den Neunzigern.

Ok? Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie das Bedürfnis zu Widersprechen? Einzuschränken? Vergleiche anzustellen? „Ja, aber“ zu sagen?

Ja? Dann bitte: Das dominate Paradigma. Da ist es, in Ihrem Hirn.

Paradigmen zu unterlaufen, falls Sie sich das nicht zur Tagesaufgabe gemacht haben, kann sich klebrig, unmoralisch, sogar schmutzig anfühlen, daß weiß ich, aber wie gesagt, niemand schaut zu, und dieses Heft setzt keine Cookies und hat keinen Browserverlauf. Probieren wir es einfach… ok? Dann wäre auch gleich das Eingangsdilemma gelöst.

Reden wir über die Achtziger und Neunziger.

Lassen Sie mich Ihnen nochmals kurz den Rücken stärken, bevor wir in die Paradigmenhölle hinabsteigen: „Performance“ wird in den USA traditionell in Viertelmeile-Zeiten gemessen, also in der Zeit, die ein Auto braucht, aus dem stehenden Start heraus 402 Meter schnurgeradeaus zu fahren, angegeben als „ET“ für „Elapsed Time“.

Falls Sie für Viertelmeile-Zeiten kein Gespür haben, dann ist das nicht schlimm, so geht es fast allen Europäern. Schauen Sie einfach her: Eine ET von 10 Sekunden markiert den Unterschied zwischen „Strip“ und „Street“. Alles unter 10 Sekunden ist traditionell nahezu ausschließlich dem Segment „Rennwagen“ zuzuordnen. „Straßen“-Autos erreichen diesen Bereich so gut wie nie. Die Ausnahme bildet der Dodge  Demon von 2018, der werksseitig auf 9.5 Sekunden kommt.

Alles unter 11 Sekunden erfordert nach den Zertifizierungsstandards der großen US-Dragracing-Dachorganisationen unter anderem einen Überrollkäfig. Kein Käfig in einem unter-11-Sekunden-Auto: Keine Teilnahme an offiziellen Veranstaltungen. 

Serienfahrzeuge, sprich völlig unmodifizierte, regulär erhältliche „Performance“-Fahrzeuge, haben in den Sechzigern üblicherweise Viertelmeilenzeiten im 13-15-Sekunden-Bereich abgeliefert. Unterhalb der 13 tauchen nur einige wenige Protagonisten auf, etwa die Corvette von 1966 mit dem 427cui Mark IV und 4-Gang Schaltgetriebe (12.66 Sekunden), oder der Plymouth Roadrunner von 1969 – mit Six-Barrel-Vergaseranlage auf dem 440cui V8, mit Schaltgetrieb und 4.10er Hinterachse (12.96 Sekunden). Falls die Message sich hier nicht aufdrängt: Ersterer ist ein Supersportwagen, letzterer ein Auto, daß quasi mit Rennvorbereitung in extrem geringen Stückzahlen ausgeliefert wurde.

Die gängigeren „Performance“-Autos der Ära dürfen sie faustregelartig in den hohen 13ern einsortieren, wenn Sie es mit Spitzenmotorisierungen zu tun haben, und in den hohen 14ern, wenn es sich um „normalen“ Performance-Modelle handelt. 15 Sekunden markiert den „Cut-Off“ nach oben. Alles über 15 Sekunden zählt nicht mehr ins „Performance“-Feld.

Jetzt verstehen Sie bitte, daß sehr viele dieser Autos durch simple Optimierungsmaßnahmen deutlich verschnellert werden konnten – Maßnahmen, die im Allgemeinen jede Alltagstauglichkeit haben entfallen lassen, von Hinterachsübersetzungen über Nockenwellen bis hin zu Vergasern. Bis weit in die Siebziger waren derartige Modifikationen in den USA völlig unereguliert und unüberwacht – solange, bis „Durchschnittsverbrauch“ zur staatlich geregelten Fixzahl wurde.

Nicht nur wurde nach 1975 die Leistung von PKW im allgemeinen zurückgefahren – es wurde auch die Modifikation von Fahrzeugen nach diesem Datum flächendeckend untersagt, und nicht ganz so flächendeckend überwacht – was essentiell die Ära von Street/Strip-Autos beendet hat. Den Alltagswagen viertelmeiletauglich zu machen war nicht länger erlaubt, und den speziellen Rennwagen zusätzlich zum Alltagswagen konnte sich bei weitem nicht jeder Autofan leisten. Autofahren insgesamt wurde, daß ist richtig, verlangsamt.

Und jetzt schauen Sie mal auf eins der Aushängeschilder der Achtziger: Der Buick GNX hat 1987 eine ET von 12.7 Sekunden abgeliefert. Lassen Sie sich von niemand erzählen, der 547 mal gebaute GNX sei eine Sonderserie, die nicht zählt: ’69er 6 bbl-Roadrunner mit 4-Speed bringen es auch nur auf 910 Exemplare.

Andere, nicht ganz so Stückzahlenbeschränkte Performance-Autos aus den 80ern sind nicht ganz so schnell: Foxbody-Mustangs und die Corvette C4 zum Beispiel, erreichen im Serienzustand im Lauf des Jahrzehnts Werte in den hohen 13ern. Werte, die von Einspritzanlagen und Steuergeräten abängig sind und kaum vom Laien verändert werden können, zugegeben, aber dennoch: Werte, die sich mit den Standard-Performern der Sechziger absolut messen können – in Autos mit Servolenkung, Klimaanlage und langer Hinterachse, rundum alltagstauglich und absolut nicht rennvorbereitet. Da aber ist der Ruf schon ruiniert und das Paradigma in den Köpfen verankert, dann ja, es stimmt, zwischen 1973 und 1983 sind die ETs der sportlichen amerikanischen Serienautos von den hohen 14ern in die 15, 16 und um 1980 herum sogar in die 17er gerutscht, bevor ab ungefähr 1982 der lange Weg zurück beginnt.

1994 erreicht Chevrolets Impala SS mit dem LT1 eine Viertelmeilenzeit von 14.7 Sekunden – genau da, wo sich der großteil der Straßenkrieger der jahre 1967-1970 tummelt. Ja, der originale Impala SS von1961 war eine ganze Sekunde schneller – auf einer Rennstrecke mit vorbereiteter Oberfläche, „Strip“-Reifen und einem Drag-Racing-Superstar am Steuer. Der Impala SS von 1994 schafft diese Zeit auf der offenen Straße, notfalls mit ihrem Hund am Steuer, mit Airbags, Seitenaufprallschutz, Klimaanlage, Vier Türen, ABS und einem drei Klio schweren Radio. Zu diesem Zeitpunkt dürfen Sie bereits wahllos und getrost davon ausgehen, daß sich das „Performance Gap“ geschlossen hat.

Gehen Sie einfach Autos aus dem Weg, die aus den Dunklen Jahren kommen, also 1974 Ölkrise) bis 1981 („Year of the Dog“), und ignorieren Sie das dumme Szenegeschwätz von „Richtig Leistung braucht Bigblock“ oder „Richtig Leistung gabs nur bis 1970“ und den ganzen anderen Unfug kategorisch. Menschen, die sowas von sich geben, fürchten sich auch noch vor Einspritzanlagen.

So. Und jetzt lösen wir das Eingangsdilemma: Wie wäre es mit einer Corvette C4 (1984-1996) oder sogar einem Camaro aus der 4. Generation (1993-2002)? Erstere erfahren (anders als die meisten etablierten Klassiker) einen erheblichen jährlichen Wertzuwachs, sind aber immer noch bezahlbar, hoch motorisiert, erschreckend agil und durch und durch amerikanisch – und bis ins Modelljahr 1990 längst H-Kennzeichenfähig. Zweitere sind noch nicht H-fähig, und deshalb erschreckend billig, noch höher motorisiert und so schnell, daß Sie sich an das immer noch seltsame Erscheinungsbild schnell gewöhnen werden. Beide gibt es immer noch als Low Miles-Autos und oft als Ersthandexemplare. Gehen Sie beim Camaro nur bitte den Sechszylindern aus dem Weg. Digitalcockpits und Einspritzanlagen übrigens sind KEIN Kaufhindernis. Aber halten Sie in Zukunft ein argwöhnisches Auge auf den Vogel, der Ihnen diese Pseudowarnung eingesungen hat. Ich nehme an, der hat auch kategorisch zum Auto vor 1970 und zum Vergaser geraten.

www.detroit-performance.de

Text und Fotos: Sönke Priebe

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