Mercedes-Benz 280 S (W116) – S wie Stolz und Schiff

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Der W116 symbolisiert wie kaum ein anderes Auto Macht und Status der 70er Jahre in Deutschland. Und es war das absolute Lieblingsauto von Kay Paffraths Vater. Grund genug für den Sohn aus Hamburg, sich so eine Trutzburg als 280 S in Weiß zu besorgen – und damit eine andere Trutzburg an der Elbe zu besuchen

Sein Vater war ein Sternenjünger. Er hatte sich klassisch hochgearbeitet, fuhr Strich-8 sowie mehrere 123er von der Wanderdüne 200D bis zum 230E. Und dann sollte es die erste Oberklasse werden.

Es muss so um 1979 gewesen sein, als der alte Herr Paffrath bei Mercedes-Benz in Hamburg-Wandsbek seinen weißen 280 SE kaufte. Die Familie inklusive Sohn Kay zeigte sich begeistert vom nahezu verschwenderischen Platzangebot, dem kommoden Komfort der blauen Karositze und dem seidenweichen Geflüster des doppelnockigen Reihensechsers.

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Und Geld sollte die riesige Limousine auch noch einbringen – der Herr Papa nutzte den umlackierten Wagen noch bis 1986 in Hamburg nebenberuflich als Taxi. Tatsächlich besaß man hier plötzlich eine ganz neue Klasse, in den Werbeprospekten erstmals „S-Klasse“ genannt. So viel unangezweifelte Autorität sollte nie wieder eine S-Klasse ausstrahlen. Wahrscheinlich deshalb blieb das weiße Schlachtschiff stets im Kopf des Hamburgers Kay Paffrath hängen. Wie alle anderen Jungen der 70er hatte auch er mindestens ein Matchbox-Auto dieses Typs oder ein größeres Plastikspielzeug mit Kabelfernbedienung.

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2012 findet er im Internet eine S-Klasse, die fast genau so aussieht wie die seines Vaters – allerdings ohne das E hinter dem S, also „nur“ der kleine Reihensechser mit Vergaser unter der Haube. Der Wagen war im Norden unterwegs und bis 2002 lückenlos bei einem Mercedes-Benz-Partner im schleswig-holsteinischen Elmshorn gewartet worden. Da der Motor nicht anspringt, geht die Zeitmaschine für relativ kleines Geld an den Hamburger Unternehmer, der nach einer Woche Herumprobieren den Fehler findet: Die Vorwiderstände der Zündspule sind defekt. Er tauscht sie – und der für die Ewigkeit gebaute Motor springt nach der ersten Anlasserumdrehung an.

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Mehr als ein halbes Jahr werden nach und nach alle kleinen Arbeiten an der betagten S-Klasse erledigt, die sich in einem insgesamt gesunden Zustand befindet. Die rostigen oder schlecht geschweißten hinteren Radläufe weichen neuen, genau wie die klassisch-maroden unteren Lampentöpfe. Die vorderen Querträger haben dem Salz von mehr als drei Jahrzehnten nicht standgehalten und weichen frischem Stahl, die angerostete hintere rechte Tür bekommt einen originalen Nachfolger und das Schiebedach lässt sich mit ein wenig kosmetischem Aufwand noch im Original retten. Auch im Inneren des dicken Dampfers werden keine Kompromisse gemacht, der durchgesessene Fahrersitz bekommt ein neues Federgestell, diverse fehlende oder zerbrochene Verkleidungsteile besorgt Paffrath nach und nach und sämtliche Dichtungen an den Scheiben, den Türen und dem Kofferraum werden gegen neue ersetzt. Nun regnet es auch nicht mehr durch die Windschutzscheibe rein, das ist in Norddeutschland gar nicht so unwichtig.

Das war natürlich alles kein Thema, als die Daimler-Benz AG 1972 dem solventen Kunden ein aus dem Vollen gefrästes Statussymbol präsentierte und damit Deutschlands Bosse – und ihre kriminellen Gegner gleichermaßen – bediente. Die Republik wurde gebeutelt von Terrorismus, gesellschaftlichen Umwälzungen, wirtschaftlicher Rezession und der Ölkrise. Helmut Schmidt, Andersdenker und Steuermann der Republik in schweren Zeiten, nahm im „Auto des Jahres 1972“ hinten Platz. Zum ersten Mal überhaupt wurde einer Oberklasselimousine dieser Titel verliehen, die Tester sprachen vom „Besten Auto der Welt“. Und wenn Schmidt in so einem Wagen ab 1974 vorm Kanzleramt vorfuhr, nahm man ihm ab, dass er das alles schon irgendwie bewältigen wird.

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Viel Platz zum Sicherfühlen und entspannt Reisen. Die S-Klasse war damals noch konkurrenzlos.

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Geschaltet wurde selten. Die meisten Käufer griffen zur Automatik.

In der Summe der Eigenschaften war die S-Klasse zu dieser Zeit noch konkurrenzlos. Technikvorstand Hans Scherenberg und Chefstylist Friedrich Geiger bestückten den Technologieträger mit passiven und aktiven Sicherheitsmerkmalen und trieben das Über-Auto mit dem breiten Kühler, den verchromten Doppelstossstangen, den breiten rechteckigen Scheinwerfern (nach einer langen Ära der hochkant gelagerten Leuchtmittel) und den lang gezogenen Rücklichtern optisch in eine wuchtige Horizontale. Der W116 galt von Anfang an als technisch ausgereiftes Fortbewegungsmittel der Macher aus Politik und Wirtschaft, die sich in der aufgeschäumten Kunststofflandschaft zwischen Leder, Palisanderholzdekor und Zierleisten sicher und zu Hause fühlten. Als Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer 1977 von der RAF entführt wurde, saß er in einem 450 SEL. Die S-Klasse brauchte nicht lange, um als verhasstes Symbol des Imperialismus auch in den Köpfen der radikalen Linken anzukommen.

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Der mutige Schritt in die Zukunft setzte sich fort im neu konstruierten Fahrwerk mit Doppelquerlenker-Vorderradaufhängung (aus dem Prototypen C 111 übernommen) und hinterer Diagonalpendelachse. Ab 1978 war der W116 das weltweit erste Fahrzeug mit einem voll elektronisch geregelten ABS von Bosch. Die Kombination aus technisch aufwändigem Fahrwerk mit den kraftvollen Motoren und den dicken 215/70-VR14-Puschen verliehen dem schweren Wagen so brutal gute Fahreigenschaften, dass der größte Mercedes aller Zeiten wiederum der offizielle Dienstwagen der Anti-Terror-Truppe GSG9 wurde. Womit sich der bundespolitisch historische Kreis wieder schließt. Weder Audi noch BMW oder die amerikanischen Limousinen konnten in diesem Jahrzehnt dem W116 auch nur ansatzweise das 
Wasser reichen.

Man kam im Jahr 1972 selbstverständlich viel preiswerter voran. Um von a nach b zu gelangen, genügte den meisten Sterblichen schon ein VW Käfer, den es für rund 5.700 Mark neu zu kaufen gab und der in diesem Jahr sein 15millionstes Jubiläum feierte. Der gut verdienende Lehrer von nebenan wollte es bequemer und griff auf den großen Audi 100 LS zurück, der mit 11.700 Mark die gehobene Mittelklasse repräsentierte – in einer Zeit, als Audi noch der Muff der Spießigkeit anhaftete. Technisch überfliegende Raumschiffe wie der Audi V8 oder der A8 kreuzten noch weit entfernt zwischen den Sternen. Für vier Käfer oder zwei Audi gab es den dicken Daimler, das Grundmodell 280 S schlug mit 23.800 Mark zu Buche und grenzte sich allein damit schon weit vom Ottonormalverbraucher ab.

Das Topmodell 450 SEL 6.9 mit dem sagenhaften, mechanisch einspritzenden Big-Block-V8 lag Ende der 70er schon bei rund 70.000 Mark und kostete damit mehr als ein großzügiges Einfamilienhaus. Das wiederum kam nicht in acht Sekunden von 0 auf 100 km/h, aber man konnte nicht alles haben, auch wenn einige das wollten.

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Und auch wenn sich Einfamilienhäuser nur unter Zuhilfenahme von großzügiger Phantasie mit großen Limousinen vergleichen lassen und ein S-Klasse-Fahrer über die vier Volkswagen lächelte – tanken mussten sie alle. Und da tat der Oberklasse-Benz weh. W116 stand für Schmerz und Verbrauch pro 100 Kilometer, unter 16 Litern ging nichts. Mercedes legte 1978 für das Exportgeschäft nach und verkaufte mit dem 300 SD den ersten Turbodieselmotor in einer Oberklasselimousine, der mit rund 14 Litern auf 100 Kilometern vor allem die Amerikaner begeisterte und den streng reglementierten Flottenverbrauch im Land der begrenzten Möglichkeiten drückte. Fast 80 Prozent der von Mercedes-Benz in den USA verkauften Autos waren Selbstzünder, und noch heute sieht man in regenarmen Ländern wie Kalifornien noch viele W116 herumcruisen. Denn dort konnte der Rost die bis 1976 unkonservierten Limousinen nicht holen. 1980 kam der Nachfolger W126 und dominierte weiterhin das Oberklassesegment.

Aber heute dominiert der W116 von Kay Paffrath. Frischer weißer Lack rundet den überschaubaren Aufwand ab, und was heute vor der Baustelle der Hamburger Elbphilharmonie in der Abendsonne steht, ist die perfekte Zeitmaschine für diesen jungen Mann in den 40ern. Im Gegensatz zu Hamburgs Prestigebau sind die Kosten für das Projekt W116 bei ihm absolut im Rahmen geblieben, und vom Zeitraum von knapp einem Jahr bis zur Fertigstellung kann der Senat bei seinem vollverglasten Konzertwürfel in der Hafencity nur träumen.

Das Auto ist nicht perfekt, aber in einem ehrlich guten Zustand. Die Türen schmatzen trocken in die Zapfen, wie sie es nur bei einem Mercedes tun, der Motor schnurrt seidenweich, und über das Viergang-Schaltgetriebe lassen sich die Gänge einlegen wie einst 1977. Beim Gas geben scheint er vorne aufzusteigen – jeder, der in so einem Überauto schon einmal mitgefahren ist, wird sich daran erinnern, wie diese stolzen Schiffe als Kapitulation vor dem Drehmoment mit dem Hintern auf den Boden gedrückt wurden, wenn es einmal zügiger losgehen sollte.

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Der W116 hat mehr als 40 Jahre nach seinem Debüt nichts von seiner Erhabenheit eingebüßt und gleitet fast geräuschlos durch die neue Welt, die Paffraths Vater leider nicht mehr erleben durfte. Aber seine Mutter lädt er nach der Zulassung des Autos mit dem gleichen Nummernschild wie damals zu einer ausgiebigen Rundfahrt ein, während der die beiden in Erinnerungen an die Zeiten damals schwelgen. Der weiße Mercedes ist in der ganzen Familie inzwischen gern gesehen und animiert zum Innehalten und Nachdenken.
Kay Paffrath lebt uns vor, wie Träume in Erfüllung gehen können. Und vielleicht ist irgendwann ja auch die Elbphilharmonie fertig…

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Hinten ist viel Platz für Gepäck und andere wichtigen Sachen

Technische Daten

Mercedes-Benz 280 S (W116)
Baujahr: 1977
Motor: Reihensechszylinder
Hubraum: 2.746 ccm
Leistung: 115 kW (156 PS) bei 5.500/min
Max. Drehmoment: 223 Nm bei 4000/min
Getriebe: Viergang-Handschalter
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4.960/1.870/1.423 mm
Leergewicht: 1.660 kg
Beschleunigung 0-100 km/h: 11,5 Sek.
Top-Speed: 190 km/h
Wert: 10.000,- Euro

 

Fotos: Jens Tanz