LESERAUTO: Kai Dettenbach und sein Chevrolet Chevelle SS396 von 1968

Die Chevelle SS396 war ab Werk schon ein Kraftpaket. TRÄUME WAGEN Leser Kai Dettenbach hat sich einen Traum erfüllt und den rollenden Muskel importiert, jenseits der Serienausstattung mit einem fetten 8,2-Liter-V8. Nach vielen Monaten Wiederaufbau im Osten ist der Chevy der landgebundene Ausgleich zu den Hubschraubern, die er mit Bauteilen ausstattet

 

Wir haben noch ’ne knappe Stunde Zeit, dann kommt der Hubschrauber. Kai Dettenbach sagt das so, als würde er über den Versand von einer kleinen Kiste voller Bauteile sprechen. Genau genommen ist das auch fast so, mit dem Unterschied, dass die Kiste zwei Personen Platz bietet und zum Kunden fliegen wird. Der 44-jährige Fertigungsleiter bei Dreiling Maschinenbau stellt unter anderem den Koaxialantrieb und die Getriebekomponenten für einen Ultraleicht-Helikopter ohne Heckrotor her. Okay, echt abgehoben, aber der kommt ja erst in einer Stunde. Hier vor uns steht jetzt sehr geerdet etwas sehr Rotes, ein Muscle Car mit ganz bodenständiger Technik.

Vor dem wolkenlosen, dunkelblauen Himmel im westlichen Thüringen brennt der rote Lack des Coupés regelrecht in den Augen und verursacht mehr blinde Flecken als die Sonne selbst. Die Fahrertür ist noch weit offen, als Dettenbach den Zündschlüssel dreht und den Mopar Big Block zu ungestümem Leben erweckt. Ach was, 396 cui? Das klingt aber nach mehr, was da aus den beiden 3-Zoll-Edelstahlrohren herausballert. Ist es auch. Unter der hutzigen Haube des Chevys steckt ein 502-cui-V8, das sind 8,2 Liter Hubraum, Hubraum und nichts als Hubraum. Mehr geht, ist aber selbst in den Riesenschiffen von Lincoln und Cadillac sehr selten. Die Tür fällt ins Schloss. Der Mann aus Westhausen legt die erste von drei Fahrstufen ein und nimmt Anlauf für das eine oder andere Spiel mit den G-Kräften, während wir uns im Kopf noch immer mit über acht Litern auseinandersetzen.

Die Amis kennen die Chevelle schon seit den frühen 60ern. Während hierzulande bei dem einen oder anderen noch die „Chevette“ von Opel in den Ohren klingelt, rollten schon seit dem Modelljahr 1964 die vom Chevy Nova abgeleitete Chevelle 300 und ihre üppig ausgestattete Schwester Chevelle Malibu mit Reihensechsern und V8ern von den Bändern. Die neue Trapezform mit leicht abfallender Haube und Kofferraum zusammen mit dem Hüftschwung traf den Geschmack der Mittelklassekunden, das Super-Sport-Paket mit fetteren Triebwerken und sportlicherer Ausstattung ließ erste Muscle-Car-Ansätze ahnen. Fast 1,5 Millionen Chevelles wurden von der ersten Generation verkauft.

Von 1968 bis 1972 wurde die zweite Stufe als Limousine, Coupé, Cabriolet und Kombi gezündet und trug je nach Ausstattung und Bauform üblich blümerante Namen wie Deluxe, Concours oder Nomad. Der erhabene alte Nomad erinnerte an Chevrolets gewaltige Station Wagons in der Mitte der 50er-Jahre. Auch der „Super-Sport“ wurde wieder auf die Kundschaft losgelassen. In Deutschland hätte den wohl niemand mit SS abgekürzt, in Amerika trug er die dort unverbrannte Bezeichnung stolz in den Emblemen vor sich her. Über 2.000.000 Fahrzeuge verkaufte GM von der schönsten aller Chevelles, die dritte Generation bis 1978 kam wie üblich verfettet, irgendwie klotzig und großzügig übermotorisiert daher – und lief als letzte Generation von Chevelles aus. Alles danach hieß nur noch Malibu.

Kai Dettenbach kurbelt an dem kleinen Lenkrad, als würde er einen leichten Sportwagen pilotieren. Die Chevelle hat eine so enorme Kraft, dass ihr Gewicht sozusagen nicht ins Gewicht fällt. Allein die Servolenkung hat gefühlt mehr Power als ein Kleinwagen, alles drückt nach vorn, als gäbe es keine Alternativen. Amis sind nichts Neues für ihn. Ab 1992 war es ein Jeep, abgelöst von einem 1964er Mustang Convertible und noch einem 1984er Jeep CJ7. Von 2012 bis 2014 ritt der Familienvater einen 1929er Ford A Hot Rod, der sich aber nicht als platzbietende Reiselimousine erwies. Da die Familie immer öfter gern zu den Oldtimerveranstaltungen mitwollte, musste ein Auto mit Kofferraum her – die Chevelle war die Königin der Herzen (und Taschen). Eine Königin mit diesem gewaltigen Motor drin. Der Preis war okay, so okay, dass Kai im Geiste noch einige unvorhergesehene Überraschungen bei dem blind gekauften Wagen einplante. Und das war auch gut so.

Als der Chevy in Deutschland ankam, musste er sich direkt aus dem Container einer Probefahrt unterwerfen. Das war erhellend, denn nach 100 Kilometern zerlegte sich mit einem gewaltigen „RUMMS“ das Differenzial der Hinterachse, und die Steckachsen wanderten wild wirbelnd mitsamt den Reifen vom Auto weg. Die Jungs konnten das Muscle Car zum Glück rechtzeitig zum Stehen bringen und waren um eine Erfahrung reicher. So vorgewarnt, wurden von da an keine halben Sachen gemacht. Frame off.

Radläufe, Türen, Unterboden und Tank wurden geschweißt. Dettenbach zerstörte beim Ausbau die Windschutzscheibe und war um eine weitere, teure Erfahrung reicher. Außerdem war der Scheibenrahmen so verfault, dass die Wischer keinen Halt mehr fanden. Aber irgendwas ist ja immer. Er buchste das Fahrwerk neu, setzte ein 3,1:1-Sperrdifferenzial mit Superior-Steckachsen drunter und erneuerte die Bremsen. Der Vorbesitzer hatte behauptet, er möge es gern schön laut. Das ließ sich mit dem faktisch nicht mehr vorhandenen Auspuff belegen, der wurde durch eine 3-Zoll–Edelstahl-Doppelrohranlage ersetzt. Abschließend wurde der gesamte Kabelbaum erneuert, weil sich schon mehrere Kabelbrände abzeichneten. Nach insgesamt sechs Monaten hatten Kai und die Chevelle sich angefreundet, im Mai 2015 gings zur Zulassungsstelle.

Kurvenräubern im Westen vom Osten. Die Ausläufer des Harzes lassen die Herzen von Motorradfahrern und Chevellepiloten höherschlagen. Der Chevrolet bringt bei knapp fünf Metern Länge fast zwei Tonnen auf die Waage, für europäische Verhältnisse ist das „Full-Size“. Aber die über 500 PS aus den über acht Litern Hubraum relativieren das souverän. Die Gummiwalzen auf den Crager-Felgen kleben auf dem Asphalt und werfen das Coupé zielsicher durch die geschwungenen Straßen. Gut, wenn man etwas findet, woran man sich festhalten kann, die Sitze unterstützen einen da nicht. Wie ein Pilot sitzt Dettenbach hinter den analogen Instrumenten, er selbst hält sich am Lenkrad fest und genießt die Symphonie der acht Zylinder, die in drei automatisch geschalteten Akten aus zwei Flöten im Heck geblasen wird. Der Sound ist wundervoll, die Performance auch.

Ach ja – Pilot! Gerade als wir bei der Halle von edm aerotec ankommen, hebt sich der fertiggestellte Ultraleicht-Heli (oder Hubi?) in die Luft. Wie verabredet, kommen der Pilot und sein Copilot zu uns rübergeschraubt und wühlen mit dem Doppelrotor angenehmen Wind über den sonnengefluteten Platz. Das Unternehmen bedient mit dem selbst entwickelten Fluggerät den Kindheitstraum vieler gut verdienender Menschen weltweit, dieses Exemplar wird nach den erfolgten Testflügen nach Taiwan verschifft. Klasse. Der Traum vom Fliegen, für zwei Personen. Da schwebt er dem Horizont entgegen.

Auch wenn die Chevelle nicht fliegen kann – mehr Platz als ein Hubschrauber bietet sie auf jeden Fall. Im Kofferraum liegen immer ein paar Klappstühle für das nächste Treffen, und neben denen ist noch eine Menge Platz für allerhand Gepäck. Sobald die Sonne scheint, bewegt der Fertigungsleiter die Chevelle im Alltag überall hin, zur Arbeit, zum Einkaufen, mehr als 5.000 Kilometer im Jahr. Einzig die immer gleichen Sprüche der anderen nerven ein wenig. „Öy was verbraucht der denn?“ oder „Da hast du wohl ´ne Tankstelle gleich mitgepachtet! MUUUHAHAHA!“.

Als wenn es darauf ankommt. Diese ewigen Benzinverbrauchs-Diskussionen. Die einen sammeln Briefmarken und geben ein Vermögen für Papierschnipsel aus. Die anderen haben zwei Hunde und zahlen für Futter und Tierarzt mehr als für die eigenen Kinder. Kai Dettenbach fährt Chevelle und muss ab und an mal tanken. Er wirkt glücklich. Und das liegt heute definitiv an diesem Auto.

TECHNISCHE DATEN

Chevrolet Chevelle SS396

Baujahr: 1968
Motor: V8 Big Block
Hubraum: 502 cui (8.200 ccm)
Leistung: 375 kW (502 PS) bei 5.500 U/min
Drehmoment: 800 Nm
Getriebe: TH400-Dreigang-Automatik
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4.960 mm / 1.910 mm / 1.290 mm
Leergewicht: 1.700 kg
Beschleunigung 0–100 km/h: 6 s
Top Speed: 210 km/h
Wert: ca. 38.000 Euro

Autor: Jens Tanz – Fotos: Jens Tanz